Zocken im Pflegeheim

Haben Videospiele therapeutischen Effekt für Senioren?

In der virtuellen Welt gelingen ihnen Dinge, die in der Realität nicht mehr klappen: Kegeln, Tanzen, Motorradfahren. Videospiele können positive Effekte auf die Gesundheit von Senioren haben. Ein bundesweites Projekt soll das jetzt wissenschaftlich belegen.

Veröffentlicht:
Ingelore Leppin, Bewohnerin im Alten- und Pflegeheim Heinemanhof, fährt mit der speziell für Ältere entwickelte Spielekonsole "MemoreBox" auf einem Motorrad.

Ingelore Leppin, Bewohnerin im Alten- und Pflegeheim Heinemanhof, fährt mit der speziell für Ältere entwickelte Spielekonsole "MemoreBox" auf einem Motorrad.

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

HANNOVER. Neben dem gemeinsamen Singen oder Kochen steht in vielen Pflegeheimen künftig Zocken an der Konsole auf dem Wochenplan. Speziell für ältere Menschen entwickelte Videospiele sollen Gedächtnis, Lebensfreude und Beweglichkeit fördern.

Am Donnerstag wurde die Spielekonsole „MemoreBox“ eines Hamburger Start-up-Unternehmens in Hannover vorgestellt. Sie wird nach einer Testphase in Hamburg und Berlin jetzt bundesweit in 100 Senioreneinrichtungen eingeführt. Die Krankenkasse Barmer finanziert die Geräte sowie die weitere wissenschaftliche Evaluation.

Ingelore Leppin probiert an diesem Morgen gleich mehrere Games aus: Sonntagsfahrt, Kegeln und Tischtennis. In ihrem Rollstuhl sitzt die 65-Jährige vor der Leinwand, auf der zu sehen ist, wie ein Motorrad über die Autobahn rollt.

Sie lehnt sich zur Seite, um die Kurven zu kriegen und muss sich nebenbei noch das zu Beginn durchgesagte Ziel und den Fahrtweg merken. Die Spielcharaktere werden gesteuert, indem Kameras die Gesten und Bewegungen des Spielers erfassen.

„Es macht riesig Spaß, und man muss sich konzentrieren“, sagt die Bewohnerin des städtischen Pflegeheims Heinemannhof nach ihrer „Ankunft“ am Heidelberger Schloss. Toll sei, dass die Videospiele auch bei körperlichen Einschränkungen funktionierten.

Senioren – eine wachsende Zielgruppe

Berührungsängste zur Technik kennt sie nicht. Leppin hat Smartphone und Laptop und liebt digitale Kartenspiele.

Für die gesamte Games-Branche sind Senioren eine wachsende Zielgruppe. 9,5 Millionen Über-50-Jährige zocken inzwischen nach Angaben des Verbandes Game. Auch sogenannte Health Games mit therapeutischem Ansatz sind zunehmend ein Thema.

Die „MemoreBox“ sei in Europa nicht das erste Projekt seiner Art, sagte Clemens Becker von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) der Deutschen Presse-Agentur. In Pflegeheimen in den Niederlanden seien Spiele der Firma SilverFit breit etabliert.

„Man kann damit nicht Physiotherapie ersetzen“, betonte der Experte aus Stuttgart. Studien hätten erwiesen, dass Senioren beim Videospielen doppelt so lange üben. Für die Arme sei dies toll, im Stehen gebe es allerdings eine Sturzgefahr, gab der Mediziner zu bedenken.

Drei Mal in der Woche werden in den 100 von der Barmer ausgesuchten Heimen Senioren mit der „MemoreBox“ zocken. Forscher der Berliner Humboldt-Universität kontrollieren regelmäßig mögliche körperliche und geistige Veränderungen sowie ihre Lebenszufriedenheit.

Im Angebot der Konsole sind auch Singen und Tanzen – etwa zu Helene Fischers Hit „Atemlos“. Die Spiele sind auch zu zweit und in der Gruppe möglich. Bernhard Pischels Augen strahlen, nachdem er Schultern und – so gut es ging – auch die Hüften geschwungen hat.

Gaming – eine Chance für die Pflege?

„Ich habe früher viel getanzt und spiele Mundharmonika und Gitarre“, erzählte der 83 Jahre alte Heimbewohner aus Hannover, der sich nur langsam mit seinem Rollator fortbewegen kann.

Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Pflege? Viele Einrichtungen experimentieren.

In Köln etwa hat das Caritas-Altenzentrum St. Maternus eine Virtual-Reality-Brille angeschafft, die bei der Biografie-Arbeit mit Demenzkranken helfen soll. So kann eine Bewohnerin beispielsweise virtuell in ihre Heimat Bayern eintauchen.

Smart Speaker, also mitdenkende Lautsprecher, können an Arzttermine oder Medikamenteneinnahme erinnern.

Die Firma RetroBrain, die 2016 die „MemoreBox“ auf den Markt gebracht hat, sieht laut Manager Jan Brandis auch Einsatzmöglichkeiten in geriatrischen Abteilungen von Krankenhäusern, der Psychiatrie oder Behindertenwerkstätten. Die Games weckten den Spieltrieb, der in jedem steckt, sagte er.

Es gehe nicht ums Gewinnen. „Das Schöne ist, man kann hier nichts falsch machen und wird gelobt.“ (dpa)

Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ergänzung herkömmlicher Modelle

Kalziumscore verbessert Vorhersage stenotischer Koronarien

Lesetipps
Der papierene Organspendeausweis soll bald der Vergangenheit angehören. Denn noch im März geht das Online-Organspende-Register an den Start.

© Alexander Raths / Stock.adobe.com

Online-Organspende-Register startet

Wie Kollegen die Organspende-Beratung in den Praxisalltag integrieren