Geburt als "Akt des Widerstands“

Sperma-Schmuggel aus dem Knast

Rund 5500 Palästinenser sind in Israel inhaftiert, viele sitzen lange Haftstrafen ab. Einige ihrer Ehefrauen setzen auf ungewöhnliche Methoden, um schwanger zu werden: Sie lassen das Sperma ihrer Männer aus dem Gefängnis schmuggeln.

Von Maher Abukhater Veröffentlicht:
Sperma hinter Gittern: Um Kinder von ihren gefangenen Männern zu erhalten, lassen sich manche Palästinenserinnen künstlich befruchten – mit geschmuggeltem Samen aus dem Gefängnis.

Sperma hinter Gittern: Um Kinder von ihren gefangenen Männern zu erhalten, lassen sich manche Palästinenserinnen künstlich befruchten – mit geschmuggeltem Samen aus dem Gefängnis.

© Siarhei / stock.adobe.com

BEIT RIMA. Der fünfjährige Madschd sitzt im geräumigen Haus seiner Mutter auf einem Sofa und hält seine weiße Katze ganz fest im Arm. „Survivor“, steht in hellen Lettern auf seinem blauen Pullover – "Überlebender".

Irgendwie passend – denn seine Mutter hat den palästinensischen Jungen unter sehr widrigen Umständen empfangen. Sie sei vor sechs Jahren von geschmuggeltem Sperma ihres in Israel inhaftierten Mannes schwanger geworden, erzählt die 42-jährige Lydia Rimawi. Nach Angaben einer Fruchtbarkeitsklinik haben Frauen palästinensischer Häftlinge seit 2012 Dutzende Babys auf diese Weise bekommen.

Auf der Terrorliste der EU

Auf einer Kommode in dem Haus in dem palästinensischen Dorf Beit Rima im Westjordanland steht ein Bild von Abdul Karim Rimawi, Lydias Mann. „Der heldenhafte Gefangene“, steht unter dem Foto des dunkelhaarigen Mannes mit Schnauzbart. Rimawi sitzt seit dem Jahre 2000 in israelischer Haft.

Das Mitglied der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, des militärischen Arms der Fatah-Bewegung, wurde von Israel wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt. Die Organisation, die auch eine Reihe von Selbstmordanschlägen in Israel verübt hat, steht auf der EU-Terrorliste.

Festgenommen wurde Rimawi im Juni 2000, wenige Monate vor Beginn des zweiten Palästinenseraufstands Intifada. Die gemeinsame Tochter Rand – heute 18 Jahre – war damals nur acht Monate alt. „Mein Mann träumte von einem Sohn und ich wollte noch ein Kind“, erzählt Rimawi.

Doch Körperkontakt war bei den Besuchen im Gefängnis fast immer verboten, die Ehepartner durften meistens nur durch ein Glasfenster über Telefon kommunizieren. Sex ist auch zwischen Eheleuten verboten. „Ich dachte, wenn ich warte, bis er wieder freigelassen wird, bin ich fast 50 Jahre alt, und dann wird es schwierig.“

Kostenlose Befruchtung in Klinik

Die Idee kam ihr, als sie im Taxi auf dem Weg zur Arbeit war, und in den Radionachrichten von einem ähnlichen Fall hörte. „Der Bericht war über einen anderen Häftling, Ammar Zibn aus Nablus, dessen Frau mit seinem geschmuggelten Sperma schwanger wurde und ein Baby bekam“, erzählt die Frau. „Als ich dies hörte, brach ich in Tränen aus. Ich hatte so ein gutes Gefühl, weil ein Häftling Vater eines Kindes werden konnte.“

In dem Moment habe sie beschlossen, dasselbe zu tun.

Wie der Schmuggel genau ablief, will sie nicht erzählen. Die Befruchtung sei in der Razan-Fruchtbarkeitsklinik in Ramallah vorgenommen worden – umsonst. Klinikleiter Salim Abu Chaisaran, schätzt, dass in den Palästinensergebieten mehr als 75 Babys palästinensischer Häftlinge durch Samenschmuggel empfangen wurden. In israelischen Medien ist die Rede von mehr als 60 Babys.

Chaisaran erklärt die Motivation der Klinik, den Eingriff, der sonst mehrere Tausend Euro kostet, umsonst zu machen: „Für uns war das ein soziales Anliegen, den Frauen von Gefangenen dabei zu helfen, Kinder zu haben, bevor es zu spät für sie ist.“ Spermien könnten außerhalb des Körpers zwischen 24 und 36 Stunden überleben. Die Erfolgsrate bei den Befruchtungsversuchen liege zwischen 50 und 60 Prozent, sagt er.

Geburt als "Akt des Widerstands“

Madschd wurde am 1. August 2013 geboren. Sein Name bedeutet auf Deutsch „Ruhm“. Seine Geburt war für Lydia auch „ein Akt des Widerstands“ gegen die israelische Besatzungsmacht, wie sie sagt. „Ich wollte den Israelis beweisen, dass wir ein Baby haben können, obwohl er (Abdul Karim) im Gefängnis sitzt.“

Als sie ihrem Mann das zwei Wochen alte Baby zum ersten Mal zeigen wollte, sei ihr der Besuch verwehrt worden, erzählt Lydia. Die Wächter hätten die Vaterschaft angezweifelt. Erst nach einem Jahr und drei Monaten habe Abdul Karim seinen Sohn zum ersten Mal im Arm halten dürfen.

Er habe für den Samenschmuggel ein Strafgeld von umgerechnet knapp 1200 Euro zahlen müssen. Seine Frau durfte ihn ein weiteres Jahr lang nicht besuchen. „Es ist schwer, die Kinder allein aufzuziehen“, gibt sie zu. Eine israelische Sprecherin sagte zu dem Fall, die Gefängnisbehörde kämpfe „mit verschiedenen Mitteln gegen Schmuggel, darunter auch Samenschmuggel“.

Angesichts der technischen Schwierigkeiten sei es sehr zweifelhaft, ob tatsächlich palästinensische Babys als Ergebnis von Samenschmuggel geboren worden seien. „Ohne DNA-Test lässt sich die Identität des Vaters nicht festlegen“, sagt die Sprecherin. Eine solche Untersuchung lehnen die Mütter jedoch ab.

Nach Angaben der Organisation Addameer sitzen gegenwärtig rund 5500 Palästinenser in israelischer Haft, Hunderte davon mit sehr langen Haftstrafen von mehr als 20 Jahren.

Verband israelischer Terroropfer kritisiert Behörden

Meir Indor, Vorsitzender des Verbands israelischer Terroropfer (Almagor), sieht den Samenschmuggel als „schwerwiegendes Phänomen, das zeigt, dass die Gefängnisbehörde in Israel zu tolerant ist“. Er ist überzeugt, dass palästinensische Häftlinge in Israel „mit Samthandschuhen angefasst“ werden.

Jigal Amir, der jüdische Mörder des früheren Ministerpräsidenten Izchak Rabin, hatte sich vor Gericht das Recht erkämpft, durch künstliche Befruchtung Vater zu werden. Sein Sohn ist heute elf Jahre alt.

Lydia Rimawi arbeitet heute in Ramallah für den Geheimdienst der Palästinenserbehörde des Präsidenten Mahmud Abbas. In der Vergangenheit hat sie auch als Kunstlehrerin Geld verdient. Der Junge kann seinen Vater höchstens einmal im Monat sehen. „Ich liebe ihn, und er gibt mir immer Süßigkeiten“, sagt das lebhafte Kind. (dpa)

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Vor dem World Health Assembly

WHO-Pandemieabkommen noch lange nicht konsensfähig

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
„Wenn die Politik Wissenschaftlern sagen würde, wir wollen dieses oder jenes Ergebnis, ist das Propaganda.“ Klaus Überla – hier im Treppenhaus seines Instituts – über Einmischungen aus der Politik.

© Patty Varasano für die Ärzte Zeitung

Interview

STIKO-Chef Überla: RSV-Empfehlung kommt wohl bis Sommer

Neue Hoffnung für Patienten mit Glioblastom: In zwei Pilotstudien mit zwei unterschiedlichen CAR-T-Zelltherapien blieb die Erkrankung bei einigen Patienten über mehrere Monate hinweg stabil. (Symbolbild)

© Richman Photo / stock.adobe.com

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom