Arznei-Innovationen:

Wenn Zeit zum Lebensretter wird

Seit einigen Jahren können Arznei-Innovationen beschleunigt zugelassen werden. Dazu müssen vielversprechende Daten für ein Medikament gegen eine schwere Erkrankung vorliegen, für die es keine Therapiealternative gibt.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

Zeit ist ein kostbares Gut. Und ein Gut mit einer besonderen Eigenschaft: Zeit ist nicht speicherbar – sie verrinnt unentwegt.

Für Patienten hat Zeit einen herausragenden Wert: Denn lebensbedrohliche Krankheiten stehlen dem betroffenen Patienten Lebenszeit und gemeinsame Zeit mit seinen Angehörigen und Freunden.

Medizinische Innovationen, die Leben retten, Überlebenszeit verlängern oder Leid und Schmerz verringern, werden seit einigen Jahren auch stärker unter dem Aspekt der Zeit beurteilt. Und zwar der Zeit der jetzt und ganz konkret betroffenen Patienten, denen mit einer Innovation geholfen werden könnte.

So ist in der Zulassung neuer besonders wichtiger Arzneimittel bei den zuständigen Behörden eine neue Chancen-Diskussion und -Kultur entstanden, die zu modifizierten Konzepten der Zulassungsprozeduren geführt hat.

Vielversprechende Daten

Die Entwicklung und Zulassung eines Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoff ist ein langwieriger, oft mehr als zehn Jahre dauernder Prozess. Der präklinischen Versuchsphase schließt sich eine in der Regel dreistufige Phase der klinischen Prüfung an, in der sich erweisen muss, ob das Arzneimittel tatsächlich wirksam ist und welche Nebenwirkungen auftreten. Nur wenn die Nutzen-Risiko-Bilanz günstig ausfällt, wird eine Zulassung erteilt.

Für eine kleine Minderheit von Neuentwicklungen – etwa zehn Prozent aller Zulassungen – wartet die Zulassungsbehörde seit einigen Jahren nicht mehr die abschließenden Ergebnisse von Phase-3-Studien ab, sondern entscheidet bereits früher über eine Zulassung. Dazu müssen vielversprechende Daten vorliegen, der medizinische Bedarf muss hoch sein, und es darf keine Behandlungsalternative geben. Entscheidend ist also der medizinische Bedarf ("unmet medical need") der Patienten in besonderen Situationen, etwa einer lebensbedrohlichen oder zu dauerhafter Behinderung führenden Erkrankung.

Eine weitere Voraussetzung ist, dass die Ergebnisse der Phase-2- Studien hinreichend sichere Schlussfolgerungen auf ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis ermöglichen. Häufig betrifft dies neue Onkologika, die Leben retten können.

Dazu ein Beispiel: Anfang 2016 wurde Osimertinib zur Behandlung von Lungenkrebs auf der Basis von Phase-2-Studien zugelassen unter der Bedingung, dass Daten aus der bereits begonnenen Phase-3-Studie nachgereicht werden. Diese Studie wurde erfolgreich abgeschlossen, und ihre positiven Daten ermöglichten es, im April 2017 die bedingte in eine klassische Zulassung zu überführen.

In diesem Fall hat die Entscheidung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugunsten einer frühen Zulassung die Chance eröffnet, dass schwer erkrankte Patienten eine lebensrettende Therapie erhalten.

Die Entscheidung der Zulassungsbehörde war allerdings nicht unumstritten und wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss in einer ersten Nutzenbewertung am 15. September 2016 nicht geteilt. Er sah aufgrund der Ergebnisse der Phase-2-Studien keine hinreichende Evidenz, um einen Zusatznutzen anzuerkennen. Diese Entscheidung führte dazu, dass der Hersteller das Krebsmedikament für Deutschland aus dem Vertrieb nahm. Anders als der Bundesausschuss beurteilten allerdings behandelnde Onkologen den Stellenwert des neuen Arzneimittels und organisierten den Bezug von Osimertinib aus dem Ausland. Dies ist lege artis, weil die Zulassung von der Entscheidung des Bundesausschusses nicht tangiert ist.

Mit seiner Entscheidung vom 19. Oktober 2017 korrigierte der GBA seine Erstbewertung und bescheinigte Osimertinib einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen – auf Basis von Ergebnissen der Phase-3-Studien. Der Vertrieb in Deutschland wurde wieder aufgenommen.

Bedingte Zulassung

Zulassungen für besondere Therapiesituationen sind eng auf diejenigen Patienten begrenzt, die von vielversprechenden Studiendaten profitieren können. Sie unterliegen Auflagen, weshalb sie auch bedingte oder konditionale Zulassungen genannt werden. Sie sind auf ein Jahr befristet und mit der Verpflichtung des pharmazeutischen Unternehmens verbunden, weitere Daten in umfangreicheren klinischen Studien zu erheben und einzureichen. Der Erfüllungsgrad der beauflagten Studien wird jährlich überprüft, und die Zulassung kann jeweils um ein weiteres Jahr verlängert werden. Vor der Umwandlung in eine klassische Zulassung muss die Zulassungsbehörde bestätigen, dass die Auflagen erfüllt worden sind.

Die Erfahrungen der EMA zeigen, dass diese Auflagen regelmäßig erfüllt worden sind. Zwischen 2006 und 2017 erhielten insgesamt 37 Medikamente eine bedingte Zulassung; davon sind bisher 20 nach Erfüllung sämtlicher Auflagen in eine normale Zulassung umgewandelt worden.

Außergewöhnliche Zulassung

In sehr seltenen Fällen wird eine "Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen" erteilt. Dabei geht die Zulassungsbehörde davon aus, dass die üblicherweise notwendigen umfassenden klinischen Daten nicht vorgelegt werden können, aber bei einem hohen medizinischen Bedarf die begründete Annahme besteht, dass ein Medikament Patienten helfen kann.

Wenn sich die üblichen Datenstandards in besonderen Therapiesituationen objektiv nicht erfüllen lassen, wäre es nicht im Interesse der betroffenen Patienten, formal auf der Erfüllung zu bestehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn eine Krankheit sehr selten ist oder ethische Bedenken gegen bestimmte Studien in der Therapiesituation bestehen.

Diese Form der Zulassung ist an besonders strenge Auflagen geknüpft: Die Zulassung wird jährlich überprüft und in der Regel nicht in eine klassische Zulassung umgewandelt. Fast alle betroffenen Medikamente sind Orphan Drugs.

Ein Beispiel für ein solches Arzneimittel ist das Orphan Drug Cerliponase alfa. Es wird zur Behandlung einer seltenen vererbten Stoffwechselerkrankung bei Kindern angewendet, der neuronalen Ceroid-Lipofuszinose, auch Kinder-Demenz genannt. Die betroffenen Kinder leiden aufgrund eines fehlenden Enzyms an einer progredienten degenerativen Hirnerkrankung. Sie führt zu Demenz, Epilepsie, Visusverlust und motorischem Abbau, es kommt in kürzester Zeit zu einem vollständigen psychomotorischen Funktionsverlust. Zu Cerliponase alfa gibt es keine Behandlungsalternativen.

In einer solchen Situation sprechen ethische Bedenken dagegen, das neue Arzneimittel gegen Placebo zu testen und damit der Kontrollgruppe faktisch eine möglicherweise wirksame Therapie vorzuenthalten. Aufgrund der sehr geringen Zahl in Frage kommender Probanden wäre eine kontrollierte klinische Studie auch wenig aussagefähig.

Unter diesen Umständen können die üblicherweise notwendigen umfassenden klinischen Daten einer klassischen Zulassung objektiv nicht vorgelegt werden. Trotzdem war zum Zeitpunkt der Zulassung der klinische Nutzen von Cerliponase alfa auch ohne solch umfassenden Daten deutlich erkennbar, und das Nutzen-Risiko-Profil war positiv: Die unkontrollierten Studien mit diesen Kindern zeigten dramatisch bessere Krankheitsverläufe als historische Vergleichsdaten, bei einem akzeptablen Nebenwirkungsprofil. Die Zulassung wurde so unter Würdigung der besonderen Therapiesituation unter außergewöhnlichen Umständen erteilt, mit der Auflage, weitere Daten zur Langzeitsicherheit zu erheben.

Vorläufige Nutzenbewertungen

Diese flexibleren Möglichkeiten der Zulassung entsprechen auch den Bedingungen der Nutzenbewertung und der darauf folgenden Verhandlungen über den Erstattungsbetrag. Genauso wie die Zulassung für besondere Therapiesituationen befristet und auch an Konditionen gebunden ist, so nutzt der Bundesausschuss die Option der Befristung, wenn die Datenlage noch vorläufig ist und weitere Erkenntnisse erwartet werden. Bislang wurde davon in 20 Prozent der seit 2011 abgeschlossenen Nutzenbewertungsverfahren Gebrauch gemacht. Gerade bei Arzneimitteln mit bedingter oder außerordentlicher Zulassung ist die Befristungsquote hoch. Regelhaft findet dann ein zweites Nutzenbewertungsverfahren auf erweiterter Datenbasis statt.

Auch bei den Verhandlungen für den Erstattungsbetrag kann die spezielle Datenlage bei solchen Zulassungen berücksichtigt werden. Erstattungsbeträge können vorläufig vereinbart und erneut verhandelt werden.

Möglich sind dabei auch mengenbezogenen Komponenten, die das Kostenrisiko für die GKV begrenzen können. Eine neue gesetzliche Regelung, etwa in Form von Abschlägen bei Datenunsicherheit, die sich der GKV-Spitzenverband unter dem Stichwort "adaptive Erstattung" wünschen würde, ist aus Sicht der Industrie nicht notwendig.

Flexible Formen der Zulassung und der Nutzenbewertung ermöglichen Patienten mit schweren Erkrankungen ohne ausreichende Behandlungsoption neue Therapien.

Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Ulrike Elsner

© Rolf Schulten

Interview

vdek-Chefin Elsner: „Es werden munter weiter Lasten auf die GKV verlagert!“

Die Alzheimer-Demenz ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der es zur Bildung extrazellulärer Amyloidplaques kommt.

© [M] Juan Gärtner / stock.adobe.com

Neuer Hoffnungsträger

Homotaurin-Prodrug bremst Alzheimer