Stärkere Verankerung im Studium
Geschlechtersensible Medizin: Vorbehalte in der Ärzteschaft gibt es immer noch
Gegen geschlechtersensible Medizin gibt es auch unter Kollegen immer noch Vorbehalte. Mehr Aufklärung sei deshalb wichtig, heißt es auf dem Hauptstadtkongress. Und eine starke Verankerung im Medizinstudium.
Veröffentlicht:Berlin. Geschlechtersensible oder vulgo Gendermedizin rückt zwar immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Doch obwohl es seit 15 Jahre Hinweise gibt, dass es zwischen Männern und Frauen solch relevanten Unterschiede gibt, dass eine One-fits-all-Medizin nicht passt, gebe es unter Kollegen immer noch Skepsis, sagte Kardiologe Dr. Michael Becker bei einer Podiumsdiskussion auf dem Hauptstadtkongress.
Wozu das führen kann, berichtete der Chefarzt am Rhein-Maas-Klinikum in Würselen, den Angaben zufolge das erste Frauenherzzentrum Deutschland, mit einem anschaulichen Beispiel. Bei ihm stellte sich eine 35-jährige Patientin vor, die seit sechs Jahren Beschwerden hatte, Palpitationen und thorakalen Druck mit Dyspnoe.
Frauen landen schnell in Schubladen
Die Frau ging von Arzt zu Arzt. „Das Fazit nach 15 Arztbesuchen: Panikattacken“, fasste Becker die Diagnose seiner Kollegen zusammen. Seine Diagnose nach einem Provokationstest beim Herzkatheter: vaso-spastische Angina. „Nach acht Wochen Therapie hatte die Frau keine Beschwerden mehr.“
Es sei „immer die gleiche Geschichte“, bedauerte Becker. Leiden der Frauen würden nicht ernst genug genommen und ihre Beschwerden oft auf psychische Ursachen zurückgeführt.
Generell würden kardiovaskuläre Risiken bei Frauen unterschätzt, Symptome – etwa bei einem Herzinfarkt – falsch gedeutet, da sie nicht dem gängigen männlichen Schema entsprechen. Ärzte und Ärztinnen müssten deshalb die geschlechtersensiblen Unterschiede kennen, so Becker.
Auch zu wenig Wissen über Menopausebeschwerden
Das unterstrich Dr. Katrin Schaudig, Präsidentin der Deutschen Menopausengesellschaft. Wenn die Politik in Zukunft auf eine Primärversorgungssystem setze, müssten auch Hausärzte und Internisten über die vielfältigen Probleme von Frauen im Zusammenhang mit der Menopause informiert sein. Das seien eben nicht nur Hitzewallungen, sondern ebenso auch depressive Verstimmungen, Gelenkschmerzen, Migräne oder verminderte Leistungsfähigkeit. „Das Portfolio ist riesig“, sagte Schaudig.
Für eine ausführliche Beratung von Frauen in der Menopause müsse es eine angemessene Honorierung geben. Eine solche fehle bisher, bedauerte Schaudig.
Die Pharmaindustrie habe inzwischen verstanden, dass bei Studien die Teilnehmer hälftig Frauen und Männer sein müssten, um zu geschlechtersensiblen Ergebnissen zu kommen, so Becker. Er wie auch Medizinstudentin Lilly Kley forderten, die Gendermedizin fest in der Medizinerausbildung zu verankern.
Unterschiede müssen selbstverständlich werden
„Wir wünschen uns, dass das Thema als Querschnittsfach behandelt wird“, so Kley von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden. Die neue Generation müsse ganz selbstverständlich aufsaugen, dass es Unterschiede gibt, sagte Kardiologe Becker.
Urologe Dr. Tobias Jäger analysierte die männlichen Vorsorgemuffel. Da helfe nur Aufklärung. Die könnte übrigens auch in der Apotheke geschehen, wenn denn zum Beispiel Potenzmittel freiverkäuflich wären.
Stephanie Bosch vom BKK-Dachverband forderte, Betriebsärzte stärker mit einzubeziehen. Sie sollten Männern etwa Überweisungen ausstellen dürfen. (juk)