EU-Pharma Agenda: Impulse für die Arzneimittelversorgung in Deutschland

Arzneimittelversorgung in Deutschland und der EU: Status und Ausblick

Die Sicherstellung einer hochwertigen Arzneimittelversorgung in Deutschland und der EU steht vor großen Herausforderungen. Während der medizinische Fortschritt neue Therapieoptionen eröffnet, erodieren etablierte Rahmenbedingungen, wodurch unsere Innovationskraft und Versorgungssicherheit zunehmend beeinträchtigt werden. Dieser Artikel betrachtet aktuelle Entwicklungen auf EU-Ebene (EU-HTA, EU-Pharma-Legislation) und in Deutschland (AMNOG). Er beleuchtet die kritische Bedeutung verlässlicher und innovationsfreundlicher Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Patientenzugang. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Notwendigkeit, das AMNOG-System entlang des medizinischen Fortschritts weiterzuentwickeln und die wertbasierte Preisfindung beizubehalten. Dabei werden Lösungsansätze skizziert und ein Appell für eine Stärkung verlässlicher Rahmenbedingungen formuliert, um gemeinsam zukunftsfähige Versorgungssysteme zu gestalten.

Von Dr. Daniel Steiners | Roche Veröffentlicht:
Arzneimittelversorgung in Deutschland und der EU: Status und Ausblick

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Innovation braucht verlässliche Rahmenbedingungen

Die pharmazeutische Industrie ist ein entscheidender Motor für den medizinischen Fortschritt und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Neue Therapien tragen dazu bei, das Leben und die Lebensperspektiven von Patientinnen und Patienten entscheidend zu verbessern. Doch Innovation entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie benötigt ein Ökosystem, das Forschung und Entwicklung fördert, Planungssicherheit bietet und den schnellen Zugang zu neuen Arzneimitteln ermöglicht. Gerade erleben wir eine Phase tiefgreifender Weichenstellungen.

Die Revision der EU-Pharma-Legislation und die Implementierung der europäischen Nutzenbewertung (EU HTA) definieren den europäischen Rahmen neu, gleichzeitig stößt in Deutschland das etablierte AMNOG-System zunehmend an seine Grenzen und kann seiner originären Aufgabe als wertbasiertes Preisfindungsinstrument, insbesondere mit der Einführung der sogenannten „Leitplanken“, nicht mehr gerecht werden. Vor diesem Hintergrund beleuchtet dieser Beitrag die aktuelle Situation und zeigt notwendige Kurskorrekturen auf, um eine hochqualitative Arzneimittelversorgung in Deutschland auch zukünftig sicherstellen zu können.

Weichenstellungen durch die EU-Pharma-Legislation und EU HTA

Die Europäische Union steht mit der Überarbeitung ihrer Pharmagesetzgebung (EU-Pharma-Legislation) vor einer seltenen und gleichzeitig großen Chance. Die erklärten Ziele – verbesserter Zugang zu Arzneimitteln, erhöhte Versorgungssicherheit, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit – sind für uns als europäische Gemeinschaft hochrelevant. Allerdings bergen die aktuellen Vorschläge, insbesondere die Überlegungen zur Anpassung des Schutzes geistigen Eigentums (Intellectual Property, IP), auch erhebliche Risiken. Angesichts der langen Entwicklungszyklen (10 bis 15 Jahre) und hoher finanzieller Risiken in Forschung & Entwicklung (nur ein Bruchteil der Wirkstoffe erreicht die Marktreife) ist ein starker IP-Schutz unerlässlich. Um Forschung, Produktion und bestmögliche medizinische Versorgung auch zukünftig abzusichern, ist es wichtig, dass sich politische Entscheidungsträger aus Deutschland aktiv – auf lokaler und europäischer Ebene gleichermaßen – für robuste und verlässliche Rahmenbedingungen einsetzen.

Parallel dazu soll die gemeinsame europäische Nutzenbewertung (EU HTA) Methoden zur Bewertung von Gesundheitstechnologien über die Mitgliedsstaaten hinweg harmonisieren, Redundanzen vermeiden und den Patientenzugang beschleunigen. Das Potenzial für Effizienzgewinne ist unbestreitbar vorhanden. Eine entscheidende Herausforderung liegt jedoch in der effektiven Verzahnung mit den nationalen Systemen. Obgleich die ersten Schritte in die richtige Richtung bereits unternommen wurden, muss sich auch unser AMNOG noch stärker mit EU HTA verzahnen, um die Ergebnisse der europäischen Bewertungen sinnvoll aufzunehmen und berücksichtigen zu können.

Dies betrifft zum einen die Anpassung der methodischen Bewertungsgrundsätze an den europäischen Rahmen, um eine Fragmentierung und widersprüchliche Ergebnisse z. B. bei der Akzeptanz von Endpunkten zu vermeiden. Zum anderen muss auf prozessualer Ebene sichergestellt sein, dass der europäische Bericht (Joint Clinical Assessment, JCA) auch bei möglichen Verzögerungen frühzeitig und adäquat in der Nutzenbewertung berücksichtigt werden kann. Bedauerlicherweise ist dies aktuell nicht vollumfänglich gewährleistet und widerspricht damit einem Grundgedanken der gemeinsamen europäischen Nutzenbewertung. Hier besteht entsprechender Anpassungsbedarf.

Die Situation in Deutschland: das AMNOG am Scheideweg

Deutschland galt lange als Vorreiter bei der schnellen Verfügbarkeit neuer Arzneimittel, nicht zuletzt dank des AMNOG-Verfahrens, das 2011 mit dem Ziel eingeführt wurde, Innovationen zu fördern und gleichzeitig die Interessen von Kostenträgern und Herstellern auszubalancieren. Dieses System soll einen schnellen Marktzugang nach Zulassung bei gleichzeitig strukturierter Zusatznutzenbewertung und hierauf basierter Preisverhandlung ermöglichen.

Doch diese einst verlässlichen Rahmenbedingungen erodieren zusehends. Insbesondere das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat zu einer erheblichen Verschärfung geführt, die über kurzfristige Sparmaßnahmen hinausgeht. Die Verbindung aus erhöhtem Druck in Preisverhandlungen durch die Einführung starrer Leitplanken, die im Widerspruch zu einer nutzenbasierten Preisfindung stehen, und dem Kombinationsabschlag erhöht die Komplexität und reduziert die Planungssicherheit massiv. Hierdurch wird der Wert bestimmter Nutzenkategorien (z. B. „nicht quantifizierbar“) herabgesetzt, die zusatznutzenbasierte Preisfindung relativiert und somit die Bedeutsamkeit von Schrittinnovationen ignoriert.

Darüber hinaus stößt die etablierte AMNOG-Logik bei bestimmten Therapieansätzen und Evidenzlagen zunehmend an ihre Grenzen, insbesondere wenn bei Marktzulassung begründbare Evidenzunsicherheiten bestehen. Diese Situationen entstehen nicht aus Mängeln im Studiendesign, sondern aus der Natur der Erkrankung oder den ethischen Rahmenbedingungen der Forschung:

Sehr kleine Patientenpopulationen: Bei seltenen Erkrankungen oder spezifischen Subgruppen kann die Durchführung großer, randomisierter kontrollierter Studien (RCTs) schlichtweg nicht praktikabel sein. Folglich können die für den AMNOG-Prozess geforderten, direkt vergleichenden Daten in diesen Therapiesituationen nicht erbracht werden.

Ethische Limitationen: In Situationen mit einem hohen, ungedeckten medizinischen Bedarf kann es ethisch geboten sein, den Patientinnen und Patienten im Kontrollarm einen frühen Wechsel (Crossover) auf die potenziell wirksamere Studienmedikation zu ermöglichen. Dies bedeutet zwangsläufig, dass aus einem RCT mitunter keine direkt vergleichenden Daten zur Langzeitwirksamkeit mehr abgeleitet werden können.

Limitationen beim Nachweis von Langzeiteffekten: Der Nachweis einer Heilung (z. B. bei kurativen Einmaltherapien) oder eines langfristigen Ansprechens ist oft innerhalb üblicher Studienlaufzeiten nicht vollständig darstellbar. Die notwendige Evidenz kann hier unter Umständen erst viele Jahre später vorliegen.

In diesen Grenzbereichen führt die starre Anwendung klassischer Bewertungsmaßstäbe im AMNOG dazu, dass Studiendaten, die einer nachgelagerten Evidenzstufe zuzuordnen sind (Non-RCT-Evidenz), aus formalen Gründen im AMNOG nicht herangezogen werden und der tatsächliche Wert einer Innovation unter Umständen nicht adäquat erfasst wird. Dies erhöht die Komplexität, untergräbt die Planungssicherheit und kann letztlich dazu führen, dass dringend benötigte Therapien den Patientinnen und Patienten in Deutschland nur verzögert oder gar nicht zur Verfügung stehen. Gleichzeitig bilden verlässliche Rahmenbedingungen die Grundlage für unternehmerische Entscheidungen über F&E-Investitionen, was wiederum einen direkten Einfluss sowohl auf unsere langfristige Arzneimittelversorgung, als auch auf unsere Standortattraktivität hat.

Die Zukunft des AMNOG gemeinsam gestalten

Um auch zukünftig den Zugang von Patientinnen und Patienten zu innovativen Therapien zu sichern, muss das AMNOG gezielt weiterentwickelt werden. Der Fokus sollte darauf liegen, einen pragmatischen und fairen Umgang mit begründbaren Evidenzunsicherheiten zu etablieren, die sich aus dem medizinischen Fortschritt heraus ergeben. Aus den zuvor beschriebenen Gründen kann es passieren, dass für ein neues Arzneimittel trotz einer hohen Bedeutung für die Patientenversorgung kein Zusatznutzen im AMNOG abgeleitet wird. Für die anschließende Preisverhandlung können die Folgen gravierend sein.

Um dieser Schieflage abzuhelfen, sollte das AMNOG wie folgt weiterentwickelt werden:

1) Sofern ein Zusatznutzen aus formalen Gründen nicht abgeleitet werden kann, ein Arzneimittel aber einen relevanten und ungedeckten Versorgungsbedarf bedient (unter Einbezug der Expertise aus der Behandlungspraxis und der Patientenperspektive), ist dies durch einen flexibleren Verhandlungsrahmen in der Preisverhandlung adäquat zu berücksichtigen.

2) In besonderen Therapiesituationen, in denen es unmöglich oder unangemessen ist, Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern, muss die bestverfügbare Evidenz für die Zusatznutzenbewertung herangezogen werden; dies setzt eine grundsätzlich höhere Akzeptanz für Non-RCT Evidenz voraus.

3) Einer Evidenzunsicherheit (z. B. zu Langzeiteffekten) sollte im Einzelfall durch flexible, ergebnisorientierte Erstattungsmodelle (z. B. Pay-for-Performance) begegnet werden können. Diese erfordern jedoch pragmatische und einvernehmliche Vereinbarungen zwischen Kostenträger und Hersteller sowie einen möglichst geringen bürokratischen Aufwand. In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, erfolgsabhängige Erstattungsmodelle im Rahmen der zentralen Paragraf 130b-Verhandlung optional etablieren zu können.

Diese Anpassungen erfordern Mut zur Flexibilität und die Bereitschaft, etablierte Bewertungsmuster zu hinterfragen, ohne die notwendige wissenschaftliche Strenge aufzugeben. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, der dem medizinischen Fortschritt gerecht wird und sicherstellt, dass innovative Arzneimittel auch in besonders komplexen Therapiesituationen weiterhin ihren Weg zu den Patientinnen und Patienten finden.

Fazit: Gemeinsam für eine zukunftsfähige Versorgung

Die Arzneimittelversorgung in Deutschland und der EU steht an einem kritischen Punkt. Wichtige Weichenstellungen auf EU-Ebene und nationale Herausforderungen, insbesondere im Umgang mit Evidenzunsicherheiten im AMNOG, erfordern dringendes Handeln. Als forschende pharmazeutische Industrie sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten. Doch dafür brauchen wir verlässliche und planbare Rahmenbedingungen – abseits innovationsfeindlicher Maßnahmen wie den Leitplanken und dem Kombinationsabschlag –, die der wissenschaftlichen Realität gerecht werden. Diese sind kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung dafür, dass der medizinische Fortschritt auch in Zukunft bei den Patientinnen und Patienten ankommt.

Hierfür bedarf es eines konstruktiven Dialogs aller Akteure im Gesundheitssystem – Kostenträger, Ärzteschaft, Patientenvertretungen, Politik und Industrie – um die Rahmenbedingungen so weiterzuentwickeln, dass wir als Deutschland Vorreiter für eine nachhaltige und hochwertige Gesundheitsversorgung bleiben.

Arzneimittelversorgung in Deutschland und der EU: Status und Ausblick

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Dr. Daniel Steiners ist seit Juni 2024 Vorstand der Roche Pharma AG mit Sitz in Grenzach-Wyhlen. Zuvor war er Geschäftsführer der Bayer Vital GmbH und verantwortete deren Pharmageschäft in Deutschland. Internationale Erfahrung sammelte er bei Bayer Yakuhin in Osaka, Japan und von 2016 bis 2019 in den USA. Nach dem Studium der BWL an der Universität Münster und Promotion an der European Business School in Oestrich-Winkel war er als Associate Principal bei McKinsey & Company tätig. Zudem ist er stellvertretender Präsident des Verbands forschender Arzneimittelhersteller.

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