Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa)

Handlungsempfehlungen

Deutschland-Tempo statt Bürokratie-Trägheit

Überregulierung und eine dysfunktionale Verwaltungspraxis gefährden die Wettbewerbsfähigkeit des Forschungs- und Produktionsstandorts Deutschland. Forschende Arzneimittelhersteller machen Vorschläge, wie die Bedingungen verbessert werden können.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
In Deutschland gibt es immer weniger klinische Forschung. Was Deutschland hingegen zu leisten imstande ist, zeigte sich zuletzt bei der COVID-19-Pandemie: mRNA-basierte Impfstoffe wurden schnell entwickelt und produziert.

In Deutschland gibt es immer weniger klinische Forschung. Was Deutschland hingegen zu leisten imstande ist, zeigte sich zuletzt bei der COVID-19-Pandemie: mRNA-basierte Impfstoffe wurden schnell entwickelt und produziert.

© metamorworks / stock.adobe.com

In seinem Buch „Simon für Manager“ hat der Ökonom Professor Hermann Simon drei besondere Eigenschaften der Zeit definiert:

Zeit ist eine knappe Ressource.

Zeit ist nicht spar- und lagerbar.

Vergangene Zeit ist nicht reversibel.

Sowohl gesetzliche Rahmenbedingungen als auch deren Umsetzung durch Administrationen führen jedoch zu verschwenderischem Umgang mit dem Faktor Zeit. Die Folge: In der klinischen Forschung hat Deutschland seit 2015 internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren und ist weltweit von Platz 2 (nach den USA) auf Platz 6 zurückgefallen.

Grundsätzlich hat die Ampel-Koalition das Problem einer dysfunktionalen, zeitraubenden Regulierung und Bürokratie erkannt – ob konsequent, umfassend und zielgerichtet gehandelt wird, ist offen. Unter dem Titel „Deutschland-Tempo statt Bürokratie-Trägheit“ hat der Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa) Handlungsempfehlungen erarbeitet, die den Innovations- und Produktionsstandort Deutschland wieder wettbewerbsfähig machen sollen.

Hürde Ethikkommission

Die EU Clinical Trials Regulation (EU-CTR) sollte das Genehmigungsprocedere klinischer Studien durch Ethikkommissionen vereinfachen: ein Antrag in einem Portal, eine bearbeitende Kommission. Die Praxis in Deutschland: Es existieren 33 Kommissionen mit einer heterogenen Bewertungspraxis. Wie das konkret aussieht, beschreibt Anna Steiner, Direktorin Klinische Forschung bei MSD in Deutschland: „Wir wissen nicht, welche Ethikkommission unsere Anträge bearbeitet. Wir haben keinen Kontakt, der Bewertungsprozess ist für uns eine Black Box.“ Eine gezielte Vorbereitung auf spezifische Anforderungen sei daher nicht möglich – zeitraubende Korrekturschleifen sind die Konsequenz.

Um dieser „Lotterie“ ein Ende zu bereiten, fordert der vfa:

Ethische Bewertung auf Basis relevanter Kriterien auf Grundlage der in der EU-Verordnung 536/2014 vorgegebenen Versagensgründe, und zwar für alle Kommissionen bindend.

Einheitliche Einwilligungserklärung der Probanden auf Basis eines existierenden Mustertextes.

Themenbezogene Spezialisierung der Ethikkommissionen, zum Beispiel für pädiatrische Prüfungen, ATMP oder Prüfungen mit Genbanken.

Sonderweg Strahlenschutz

Ein Teil der klinischen Prüfungen, vor allem in der Onkologie, erfordert Begleitdiagnostik durch Röntgenuntersuchungen oder PET. Nötig ist dann eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung. In anderen Ländern ist dies integriert in die Prüfung durch Arzneimittelbehörden, Deutschland leistet sich den Sonderweg eines eigenständigen Genehmigungsverfahrens beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Das braucht einen zusätzlichen Zeitaufwand von bis zu sechs Monaten, berichtet Anna Steiner aus ihrer Praxis. „Ein klarer Standortnachteil“, kritisiert auch der vfa und fordert:

Am besten wäre eine Integration der strahlenschutzrechtlichen Genehmigung ins Arzneimittelgesetz und die Übertragung der Aufgaben vom BfS auf das BfArM oder PEI. Das Problem: BfArM und PEI sind beim Ministerium für Gesundheit, der Strahlenschutz beim Umweltministerium angesiedelt. Bürokratisches Ressortdenken verhindert bislang eine integrierte Lösung, ein Verfahren aus einer Hand.

Die zweitbeste Lösung, eine Anpassung des Strahlenschutzrechts an die Kriterien der EU-CTR, könnte hilfreich sein – es bliebe aber bei zwei getrennten Verfahren bei zwei Behörden.

Zeitfresser Vertragswesen

Als zeitraubend erweisen sich auch die Verhandlungen und der Abschluss von Verträgen zwischen Sponsor und Studienzentren bei multizentrischen Studien. Laut vfa dauert es in Deutschland im Schnitt 200 Tage von der ersten Anbahnung bis zu Vertragsunterzeichnung, Spanien und Frankreich brauchen nur ein Drittel der Zeit. Der Grund: In diesen Ländern sind Verträge als Muster in den Arzneimittelgesetzen vorgegeben.

Ein wichtiger Faktor dabei, so Anna Steiner, ist auch der Aufbau des jeweiligen Gesundheitswesens – und das verfügt in Deutschland über sehr viele Zentren, eingebettet in ein föderales System. Hinzu komme, dass beispielsweise in der Onkologie immer kleinteiliger mit kleineren Probandengruppen gearbeitet werde, dementsprechend viele Studienzentren gefunden und unter Vertrag genommen werden müssen. In solchen Fällen können sich Verhandlungen bis zu zwölf Monate hinziehen, so Steiners Beobachtung. Würde durch die Krankenhausreform eine Konzentration der Strukturen entstehen, könnte das hilfreich sein.

Da bei jeder klinischen Prüfung personenbezogene Daten verarbeitet werden müssen, sind datenschutzrechtliche Bestimmungen zu beachten. In Deutschland ist dabei nicht nur der Datenschutz an sich, sondern die heterogene Anwendungspraxis durch 18 Datenschutzbehörden – 17 auf Landesebene – das Problem. Der vfa schlägt deshalb vor, datenschutzrechtliche Prüfungen und Genehmigungen dauerhaft bei einem einzigen Landesbeauftragten anzusiedeln.

Das hohe Maß an Regulierung und deren zeitaufwendige Praxis habe auch für MSD zu Konsequenzen geführt. 2005 sei Deutschland unangefochten weltweit Nummer 2 unter den Standorten für klinische Forschung gewesen, in Europa sogar die Nummer 1. Sukzessive haben andere Länder wie Spanien, Frankreich, Italien und Israel an Bedeutung gewonnen.

Der Spitzenmedizin in Deutschland kann das nicht egal sein. Denn dadurch sinken die Chancen, sehr frühzeitig Innovationen einzusetzen und mit ihnen Erfahrungen zu machen. Die Translation von Neuentwicklungen in die medizinische Praxis verlangsamt sich, auch zum Nachteil von Patienten.

Rückfall in Vor-Corona-Zeit

Wo viel geforscht wird, wird in der Folge auch häufig produziert und zusätzliche Wertschöpfung erarbeitet. Was Deutschland zu leisten imstande ist, zeigte sich zuletzt bei der COVID-19-Pandemie, der überaus schnellen Entwicklung und Zulassung von mRNA-basierten Impfstoffen und deren Produktion. BioNTech gelang es – in einer beispiellosen Kooperation mit den Genehmigungsbehörden -, binnen weniger Monate am Standort Marburg eine Vakzine-Produktion aufzubauen und die Ausbringungsmengen auf den weltweiten Bedarf zu skalieren. Dieses Tempo, so klagte BioNTech-Gründer und -Vorstandschef Ugur Sahin, jüngst in der FAZ, sei längst wieder erlahmt und auf den Vor-Corona-Trott zurückgefallen.

Erfahrungen mit dem Auf- und Ausbau von Produktionsanlagen in Deutschland hat auch der Werksleiter von Pfizer in Freiburg, Axel Glatz. Mit der neuen „HighCon“-Anlage hat das Unternehmen eine der weltweit modernsten Pharma-Produktionsstätten gebaut und seine Gesamtkapazität auf 6,8 Milliarden Tabletten und Kapseln pro Jahr hochgefahren. Aber begleitet wurde der Ausbau durch „zeitaufwändige Genehmigungsprozesse und strenge regulatorische Anforderungen“. Seltsame Blüten treibe auch der Umweltschutz: Aus Sicherheitsgründen habe man jüngst einen abgestorbenen Baum fällen müssen – dem vorangegangen sei „eine Odyssee aus aufwändiger Antragsstellung und langwierigen Genehmigungsverfahren“.

Bürokratie kostet Zeit. Zeit, die vielen Patientinnen und Patienten fehlt!

Han Steutel, Präsident des vfa – Verband forschender Arzneimittelhersteller

Der vfa schlägt daher eine Straffung und Konsolidierung des Umwelt- und Planungsrechts vor, um Doppelregulierungen zu vermeiden. Genehmigungsverfahren müssten konsequent digitalisiert werden, bei komplexen Verfahren sollen Projektmanager die Steuerung übernehmen.

Komplexe Nutzenbewertung

Zunehmend Sorge bereitet den Unternehmen inzwischen auch die Vorbereitung auf die GKV-Erstattung durch die frühe Nutzenbewertung des Bundesausschusses. Bereits 15 bis 18 Monate vor der Zulassung und dem Start der Bewertung beginne man mit der Vorbereitung, so Professor Beate Kretschmer, Executive Director Market Access bei Lilly. Das Volumen von Dossiers erreicht bis zu 8.000 Seiten, und bis zu 10.000 bis 20.000 anhängende Tabellen. Weniger als ein Viertel davon, so hat der vfa festgestellt, werden vom G-BA und IQWiG tatsächlich ausgewertet.

Die Kosten, vom Gesetzgeber ursprünglich auf wenige 1.000 Euro taxiert, erreichen im Schnitt 800.000 Euro pro Dossier. In der Regel befassten sich fünf Personen über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren täglich mit der Erstellung eines Dossiers, berichtet Kretschmer – allein elf Dossiers sind derzeit bei Lilly in Arbeit. Der Umfang des Aufwands wird weiter zunehmen, da der GBA viele Entscheidungen befristet, manche Bewertung ist schon in der dritten Runde.

Notwendig sei es daher, dass der Bundesausschuss seine Anforderungen an die Dossiers auf eindeutig notwendige Analysen konzentriert und Subgruppenanalysen auf zentrale Merkmale und Endpunkte beschränkt. Änderungen der Vergleichstherapie müsse der GBA, wie vor 2022, wieder bekanntgeben. Der rechtlich verankerte Anspruch auf Beratung – Kostenpunkt 16.000 Euro – müsse realisierbar sein. Derzeit beträgt die Wartezeit auf eine Beratung zwölf Monate – ein Unsicherheitsfaktor.

Impressum

Springer Medizin Verlag GmbH, Corporate Publishing, Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin

› Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge

› Verantwortlich: Denis Nößler

› Bericht: Helmut Laschet

› Redaktion: Hauke Gerlof

© Springer Medizin Verlag GmbH. Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature.

Mit freundlicher Unterstützung des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), Berlin

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