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Interview zu Bürokratie in der klinischen Forschung

„Groteske Bürokratie, erhebliche Effizienzreserven“

Professor Christof von Kalle, Chair des Berlin Institute for Health der Charité, steht an vorderster Stelle in der klinischen Forschung. Als Mitglied des Sachverständigenrates für Gesundheit berät er die Bundesregierung. Er fällt im Interview mit der Ärzte Zeitung ein harsches Urteil über die Forschungsbürokratie und sieht „erhebliche Effizienzreserven“.

Helmut LaschetEin Interview von Helmut Laschet Veröffentlicht:
Professor Christof von Kalle ist Chair des Berlin Institute vor Health der Charité (Archivbild).

Professor Christof von Kalle ist Chair des Berlin Institute for Health der Charité (Archivbild).

© Philip Benjamin

Ärzte Zeitung: Hat das Ausmaß an Bürokratie in der klinischen Forschung in den vergangenen fünf Jahren zugenommen? Können Sie Beispiele benennen?

Christof von Kalle: Die Pandemie hat uns sehr klar vor Augen geführt, dass die Anmeldung und Durchführung von klinischen Studien in Deutschland hoch komplex und im akademischen Bereich nicht nachhaltig finanziert ist und durch erhebliche Schwächen in Infrastruktur und besonders Datenverarbeitung gehemmt wird.

So wurde zum Beispiel jede Art beobachtender Studie, die minimalinvasiv beispielsweise Virus- oder Impftiter erhebt, zu einer Zulassungsstudie erhoben, die einen besonders hohen Aufwand an Meldung und Verwaltung hat. Dies führte letzten Endes dazu, dass solche Studien in Deutschland nicht oder nur verspätet durchgeführt werden konnten, und wir stark auf die Verwendung von Daten aus anderen Ländern angewiesen waren. Bei dieser Thematik sind die Zulassungsbehörde extrem rigide vorgegangen, und es bedurfte der mehrfachen Intervention des Bundesgesundheitsministeriums, um hier zu machbaren Lösungen zu gelangen.

Auch die Forschungsfinanzierung, insbesondere die Umsetzung und tatsächliche Ausschüttung der Finanzierung durch die Projektträger, war zum Teil von einer nicht nachvollziehbaren Komplexität und geringen Geschwindigkeiten betroffen.

Es ist aber positiv anzumerken, dass in der Pandemie auch bürokratische Prozesse durch intensive Zusammenarbeit und vermehrten Austausch der Behörden, Forscher, Kliniken und Firmen, wie beispielweise die Zulassungszeit für Impfstoffe und Medikamente verringert werden konnten – bei gleichbleibender Qualität der Studien.

Haben Sie Vorschläge zum Abbau von Bürokratie oder zur Verschlankung von Administrationsprozessen?

Wenn wir künftig solche Probleme vermeiden wollen, müssen wir eine nachhaltig finanzierte Studieninfrastruktur im Bereich der akademischen Medizin, der großen Versorgungskrankenhäuser und qualitativ hochwertige ambulanter Medizin schaffen. Insbesondere müssen auch funktionale Strukturen zur Datenverarbeitung und zum Datenaustausch im Rahmen von klinischen Studien angelegt werden.

Der Datenschutz wird immer wieder als Hindernis zur Generierung für Forschung notwendiger Daten genannt. Liegt das grundsätzlich an geltenden Gesetzen oder eher an einer restriktiven oder auch widersprüchlichen Auslegung durch die Datenschutzbehörden der Länder?

Hier liegt in Deutschland ein grundsätzliches Missverständnis zwischen Datensicherheit, also der Verhinderung missbräuchlicher Nutzung, und Datenschutz vor. Nach unserem Verständnis bedeutet Datenschutz in aller erster Linie auch Patientenschutz, also die Antwort auf die Frage wie kann der Patient durch Verwaltung und Verwendung seiner Daten optimal geschützt werden. Falsch verstandener Datenschutz und Nicht-Nutzung von vorhandenen und anfallenden Patientendaten können zuweilen zu Medikamentenunverträglichkeiten, spät oder falsch gestellten Diagnosen führen – und mitunter auch das Leben kosten.

Anonymisiert oder pseudonymisierte Daten sollten daher unbedingt auch von forschenden Pharma-Unternehmen für die Entwicklung von Therapien und Diagnostika genutzt werden können.

Christof von Kalle, Chair des Berlin Institute for Health der Charité

Was könnte konkret verändert oder verbessert werden?

Die Daten im Gesundheitssystem sind schon heute über weite Strecken digital. Ein CT, MRT, eine Endoskopie oder ein Laborbefund lagen noch nie als analoge Daten vor, ohne digitale Datenprozessierung wirksam zu behandeln wäre gelogen. Alle Abrechnungsdaten werden seit schon fast einem Jahrzehnt ausschließlich digital ausgetauscht. Wir haben einen großen Bedarf an einem umfassenden Zugang zu bereits vorhandenen Patientendaten und deren unkomplizierter Nutzung für die optimale und individuelle Behandlung.

Ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll und zweckmäßig, dass auch forschende Pharma-Unternehmen einen Zugang zu anonymisierten Daten des Forschungsdatenzentrums der GKV nutzen zu können?

Forschende Pharmaunternehmen führen seit langen Jahren wichtige klinische Studien für die Zulassung neuer Medikamente, sowie Indikationserweiterung durch. Sie sind hierzu durch besondere Qualifikationen und Kontrollmechanismen autorisiert. Diese Funktion ist für die Durchführung und Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung von außerordentlich wichtiger Bedeutung und kann nicht durch staatliche oder akademische Forschung alleine ersetzt werden.

Anonymisiert oder pseudonymisierte Daten sollten daher unbedingt auch von forschenden Pharma-Unternehmen für die Entwicklung von Therapien und Diagnostika genutzt werden können – je mehr Daten zur Verfügung stehen und auch innerhalb der forschenden Community geteilt und genutzt werden können, desto präziser und effektiver kann die Entwicklung gestaltet werden. Dies gilt übrigens auch in umgekehrter Richtung und bei der Übernahme der Aufwände für eine solche Datenstrukturen. Die Industrie sollte hier nicht nur als Nehmer tätig sein.

Christof von Kalle

  • Derzeitige Position: Chair für Klinische Translationale Wissenschaft am Berlin Institute for Health an der Charité, Gründungsdirektor des Clinical Study Center.
  • Ausbildung: Medizinstudium in Köln 1981 bis 87; anschließend Forschungsaufenthalte in den USA.
  • Karriere: Promotion 1981 in Köln, Habilitation 2013 in Freiburg, Forschungsarbeit am DKFZ Heidelberg, am Fred Hutchinson Cancer Research Center Seattle, Professor an der Uni Freiburg 2003, danach in Cincinnatti, Heidelberg und Doha (Katar), 2019 Berufung an die Charité.
  • Politisches: seit 2019 Mitglied im Sachverständigenrat für Gesundheit.

Was würde dadurch verbessert werden?

Ich bin der festen Überzeugung, dass eine gemeinsame Nutzung dieser Daten als Grundvoraussetzung eine „gemeinsame Datensprache“ und Interoperabilität der Daten innehat.

Daher engagiere ich mich zum Beispiel in der Initiative Vision Zero e.V., sich aus diesem Grund mit Vertretern aus Wissenschaft, Versorgung und auch Industrie zusammengeschlossen und die „Berliner Erklärung“ zur Digitalisierung in der Medizin verfasst hat. Darüber hinaus wird gerade aktiv an einer gemeinsamen Datensprache in der Onkologie gearbeitet, indem verschiedenste onkologische Datensätze zu einem Standard harmonisiert werden – der German OncoLogical Data Standard (GOLD).

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Ethikkommissionen? Sehen Sie hier Rationalisierungsspielräume?

Nach meiner Überzeugung ist der gesamte Bereich für Durchführung und Zulassung von klinischen Studien durch zu große Komplexität und Hyperindividualität geprägt. Sowohl für die Gestaltung von Studienprotokollen, Datenverarbeitungsstandards, klinischen Protokollen und Ethik-Einreichungen, als auch für die vertraglichen Verabredungen zwischen den Krankenversorgern und Firmen würde eine überschaubare Zahl von Studien- und Vertrags-Prototypen eine Vielzahl der denkbaren Fragestellung auf effiziente Weise umsetzen lassen. Stattdessen wird buchstäblich bei jedem neuen Projekt Seite für Seite der Verträge und der Studienprotokolle neu geschrieben. Das gilt ebenso für die Vorlagen bei Ethikkommissionen. Hier sehen wir zum Teil schon fast grotesk anmutende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, nicht zuletzt auch im juristischen Bereich. In dieser Prozesskette liegen meines Erachtens erhebliche Effizienzreserven.

Der gesamte Bereich für Durchführung und Zulassung von klinischen Studien ist durch zu große Komplexität und Hyperindividualität geprägt. Wir sehen zum Teil grotesk anmutende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, nicht zuletzt auch im juristischen Bereich.

Christof von Kalle, Chair des Berlin Institute for Health der Charité

Wie wirkt sich der Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung auf die klinische Forschung aus? Welche Maßnahmen könnten die Situation rasch verbessern? Was muss Priorität gemacht werden?

Deutschland hat durch den Rückstand in der Digitalisierung in den letzten Jahren an Attraktivität für klinische Forschung eingebüßt. Einige gute nationale Initiativen sind jedoch auf dem Weg, dies zu verbessern. Hier geht es besonders um Netzwerkbildung, Expertisenbündelung und Ressourcenteilung. Beispiele besonders in der Onkologie sind das nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) oder auch das MASTER-Programm. Die Zusammenarbeit von Spitzenzentren der Onkologie einerseits und die (finanzielle) Unterstützung durch Krankenkassen, sowie der Deutschen Krebshilfe andererseits, konnte ein modernes und qualitätsgesichertes Netzwerk für molekulare und personalisierte Lungenkrebsdiagnostik und -therapie gestalten. Teilnehmende Patienten werden registriert, ihre Proben zentral analysiert, die detaillierten molekularen Diagnosen digital erfasst, individuelle Therapieoptionen und -Konsequenzen in wissenschaftlichen Boards diskutiert und digital übermittelt, sodass ein Großteil der Patienten lokal und heimatnah nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen (oder off-Label Empfehlungen) behandelt werden kann.

Was könnte die ePA bringen?

Auch die ePA ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum intersektoralen Austausch von Gesundheitsdaten. Neben der Behandlungsdokumentation, könnte Sie auch aktiv für die Studiendurchführung genutzt werden und Möglichkeiten zur Erfassung von PROs (Patient Reported Outcomes) beinhalten. So wird die Patientenautonomie durch Selbstbeobachtung- und Dokumentation gefördert (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung für 2021).

Die Bedeutung und Funktionsfähigkeit solcher Maßnahmen ist vielfach bewiesen. Wir brauchen keine weiteren Prototypen, Pilotprojekte oder Use Cases, sondern endlich eine systemweite Einführung einer brauchbaren Datenverarbeitung. Wie in allen anderen Bereichen der Wirtschaft auch, sollte ein Vorgang grundsätzlich nur dann abgerechnet werden können, wenn der dazugehörige Datensatz auch tatsächlich beim Kunden/Patienten abgeliefert worden ist.

Sind ökonomische Anreize für Ärzte, sich in der klinischen Forschung zu engagieren oder an Arzneimittelstudien zu beteiligen, ausreichend? Gibt es in Bezug auf die Honorierungsmöglichkeiten zu starke Reglementierungen durch Ethikkommissionen?

Hier sehe ich für die Arbeitgeber, wie auch die finanzierenden Unternehmen ausreichend Handlungsspielräume, um tatsächlich auftretende Kosten in transparenter Weise adäquat zu vergüten.

Zum Schluss eine etwas generelle Frage: Warum ist eine möglichst starke klinische Forschung gerade am Standort Deutschland wichtig?

Die Pandemie hat es gezeigt: gute Forschung ermöglicht bessere Gesundheit. Unsere Patienten profitieren enorm von frühestmöglicher Verfügbarkeit medizinischer Innovationen in Deutschland und erleichtertem Zugang zu demokratischer und standortunabhängiger, individualisierter und effizienter gesundheitlicher Versorgung.

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