Kooperation | In Kooperation mit: AOK-Bundesverband

AOK-Eckpunkte zur Primärversorgung

Kein Facharzttermin ohne Ersteinschätzung?

Die AOK hat in einem Positionspapier Eckpunkte für eine Primärversorgung vorgelegt. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband, über Praxisteams, Patientensteuerung und einen möglichen Zeitplan für den Systemwechsel.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
Dr. Sabine Richard ist promovierte Volkswirtschaftlerin und Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband.

Dr. Sabine Richard ist promovierte Volkswirtschaftlerin und Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband.

© AOK-Bundesverband

Frau Dr. Richard, der AOK-Bundesverband (AOK-BV) plädiert für eine Primärversorgung. Von diesem Modell erwarte man einen besseren Zugang für Patienten zur Versorgung. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt der AOK-BV verschiedene Instrumente vor. Die bestehende hausärztliche Versorgung wird demnach zu einem teambasierten Primärversorgungssystem weiterentwickelt, in dem verschiedene Gesundheitsberufe arbeitsteilig eine umfassende Grundversorgung garantieren und die Patienten bei Bedarf durch das Gesundheitssystem leiten. Wie soll dieser Vorschlag praktisch umgesetzt werden?

Zunächst müssen wir den Versorgungsauftrag der Primärversorgung inhaltlich ausgestalten, damit klar ist, welche Aufgaben diese bei der Unterstützung der Patientinnen und Patienten auf ihrem Weg durchs System erfüllen muss. Eine repräsentative Befragung der Bertelsmann-Stiftung hat gezeigt, dass Hausärzte sehr offen sind für das Konzept der Praxisteams, also für eine arbeitsteilige Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, beispielsweise mit Pflegefachpersonen.

Für eine solche interprofessionelle Zusammenarbeit braucht es eine rechtliche Absicherung. Mit dem Pflegekompetenzgesetz ist bereits ein erster Schritt gemacht worden.

Ein weiterer Baustein einer Primärversorgung ist aus Sicht der AOK eine schnelle Ersteinschätzung des konkreten Bedarfs, damit Patientenanliegen zielgerichteter an die richtigen Versorgungsebenen vermittelt werden können. Was würde ein solches Modell von den bisherigen Ersteinschätzungssystemen wie SmED beziehungsweise der 116117-Hotline unterscheiden?

Mit den von Ihnen genannten Systemen haben die Kassenärztlichen Vereinigungen eine sehr gute Vorarbeit geleistet. Darauf wollen wir aufbauen. Das heißt: einerseits, die Funktionalität zu erweitern, andererseits eine Verbindlichkeit festzulegen.

Ersteinschätzungssysteme sollten verpflichtend am Anfang einer Behandlung stehen. Durchgeführt werden können die Erstbeurteilungen online oder telefonisch von den Primärversorgungszentren oder wie bisher von den Termin-Service-Stellen der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Letztere haben momentan allerdings nur einen eingeschränkten gesetzlichen Auftrag. Wir wollen, dass dieser Auftrag ausgeweitet wird.

In einem Interview mit dem Ärztenachrichtendienst haben Sie kürzlich kritisiert, dass aktuell eine Weiterleitung vom Haus- zum Facharzt nicht immer optimal funktioniert. Wo besteht aus Ihrer Sicht Verbesserungsbedarf?

Verbesserungsbedarf attestieren ja nicht nur wir. Auf dem vergangenen Deutschen Ärztetag kritisierten auch Medizinerinnen und Mediziner, dass viele Patientinnen und Patienten nicht dort landen, wo sie eigentlich landen sollten.

Ein Grund ist unser sehr fragmentiertes Gesundheitssystem. Manche Menschen kennen die richtigen Anlaufstellen nicht, andere folgen bestimmten Gewohnheiten. GKV-Versicherte müssen außerdem viel länger warten als Privatversicherte und werden nicht selten zu Selbstzahlerleistungen aufgefordert. Dies erschüttert das Vertrauen der Bevölkerung.

Ein strukturierter Prozess kann dafür sorgen, dass schnell identifiziert wird, welche Behandlungen abschließend in der Primärversorgung erfolgen können und welche Fälle fachärztliche Therapien benötigen. Diese Einschätzung muss dann maßgeblich für die Terminvergabe in der fachärztlichen Versorgung sein.

Haben wir eine fachärztliche Überversorgung?

Ich würde eher von Fehlversorgung im ambulanten Bereich sprechen. Denn viele Menschen warten ja sehr lange auf Termine und beklagen die Benachteiligung der GKV. Andererseits sind wir in Deutschland Weltmeister bei vielen diagnostischen Leistungen. Der demografische Wandel zwingt uns dazu, hier effizienter zu werden als bisher.

Ein Bestandteil des AOKVorschlags zur besseren Patientensteuerung zwischen Haus- und Facharztsystem ist der verbindliche Überweisungsvorbehalt. Die Bundesärztekammer warnt vor einer Überbürokratisierung. Was entgegnen Sie dieser Kritik?

Mein Eindruck ist, dass gerade die Bundesärztekammer, aber auch die KBV sehr an einer Steuerung interessiert sind. Insofern kann ich den Bürokratievorwurf nicht nachvollziehen. Es wird die Aufgabe der Gemeinsamen Selbstverwaltung sein, Details festzulegen. Wir sind offen für eine Diskussion mit der Ärzteschaft.

Wir haben in unserem System zudem Ausnahmemöglichkeiten vorgesehen. Beispielsweise in der Kinder- und Jugendmedizin, der Gynäkologie und bei chronisch Kranken. Manche Behandlungen erfordern nun mal eine intensive fachärztliche Betreuung, etwa durch onkologische Praxen.

Kommen wir zu möglichen Vorteilen einer Primärversorgung. Die AOK erhofft sich unter anderem einen Abbau der Unterversorgung in bestimmten – meist ländlichen – Gebieten. Wie soll das funktionieren, wenn wenige Ärzte zusätzliche Steuerungsaufgaben übernehmen sollen?

Eine Unterversorgung resultiert unter anderem daraus, dass es in der Fläche oft schwierig ist, ärztliches Personal an ihre Standorte zu binden. Gleichzeitig wissen wir, dass für einen Großteil der Nachwuchsärzte eine Angestelltentätigkeit und Teamarbeit hohe Priorität besitzen.

Größere Einheiten von Primärversorgern, etwa Gemeinschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren, erlauben eine Angestelltentätigkeit, mehr Arbeitsteilung und durch digitale Vernetzung teilweise auch Arbeit aus dem Homeoffice – letztlich also bessere Arbeitsbedingungen. So können neue Betriebsformen der Primärversorgung dazu beitragen, mehr Personal in bislang unterbesetzte Regionen zu bekommen.

Mit der Unterstützung durch breiter aufgestellte Teams ist auch die Steuerungs- und Koordinationsaufgabe besser zu bewältigen. Das zeigen die Erfahrungen aus vielen Projekten.

Die Umstellung auf ein Primärarztsystem ist eine gewaltige Aufgabe mit vielen Akteuren. Mit welchem Zeithorizont rechnen Sie?

Richtig ist, dass wir einen Veränderungsprozess brauchen. Das beginnt mit der Anpassung von Versorgungsaufträgen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss und der Änderung der Vergütungsregeln. Dieser Prozess könnte 2028 abgeschlossen sein, wenn die Politik die Reform jetzt schnell angeht. In den kommenden Jahren gehen ja sehr viele Ärzte in den Ruhestand. Diese altersbedingten Wechsel sollten wir für einen Neustart nutzen.

Welche Rolle können die AOKs in diesem Prozess spielen?

Der Veränderungsprozess betrifft alle Beteiligten. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, Patientinnen und Patienten umfassend über die Neuregelungen zu informieren und sie auch aktiv zu begleiten, beispielsweise durch Hinweise und unterstützende Angebote über unsere Apps. Außerdem möchten wir dazu beitragen, dass ein Primärversorgungssystem als Möglichkeit für einen schnellen, verlässlichen und bedarfsgerechten Zugang zur Versorgung gesehen wird. Eine Verlust- und Verzichtsdebatte führt uns nicht weiter.

Aktuell hat der Stada Health Report 2025 gezeigt, dass Dänemark mit seiner flächendeckenden Primärversorgung europaweit das größte Vertrauen genießt. Deshalb betrachten wir die anstehende Systemänderung als Chance.

Vielen Dank für das Gespräch.

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