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Studie

Kinder und Lebensmittelwerbung: „Selbstverpflichtungen bringen nichts“

Dr. Tobias Effertz untersucht seit Jahren, wie die Industrie aus Kindern und Jugendlichen willige Konsumenten macht. Seine neueste Studie zeigt, wie immens das Ausmaß in der Lebensmittelwerbung ist. In 92 Prozent der Spots, die sich in TV und Internet an Kinder richten, werden ungesunde Lebensmittel attraktiv gemacht.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Die Zeit, die Kinder vor dem Fernseher verbringen, ist in den vergangenen Jahren zwar etwas zurückgegangen, aber dafür werden sie heute wesentlich gezielter von der Lebensmittelindustrie angesprochen als früher.

Die Zeit, die Kinder vor dem Fernseher verbringen, ist in den vergangenen Jahren zwar etwas zurückgegangen, aber dafür werden sie heute wesentlich gezielter von der Lebensmittelindustrie angesprochen als früher.

© Tomsickova / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: Macht Werbung Kinder krank?

Dr. Tobias Effertz: Werbung zielt darauf ab, das Verhalten der Konsumenten zu beeinflussen. Wenn es um ungesunde Lebensmittel geht und auf eine leicht zu beeinflussende Gruppe abzielt, ist dies besonders bedenklich. Laut unserer Studie sieht ein mediennutzendes Kind im Alter zwischen drei und 13 Jahre durchschnittlich 15,48 Werbespots pro Tag in Fernsehen oder Internet, in denen ungesunde Produkte beworben werden. Das kann ungesunde Ernährungsweisen und damit Krankheiten wie etwa Übergewicht oder Adipositas zur Folge haben.

Wir haben uns in der Bewertung der Lebensmittel am Nutrient Profile Model (NPM) der Weltgesundheitsorganisation orientiert. Es wurde extra für den Bereich Kinder entwickelt und legt für die einzelnen Inhaltsstoffe Grenzwerte fest. Werden diese überschritten, sollte keine Vermarktung an Kinder erfolgen.

Internet oder Fernsehen – welcher Medienkanal ist in dieser Hinsicht gefährlicher?

Kinder und Lebensmittelwerbung: „Selbstverpflichtungen bringen nichts“

© 2014 Fotoatelier Ebinger

Kinder sehen heute zwar weniger fern, dennoch kommen sehr viele überwiegend Kindermarketing nutzende Werbespots bei ihnen an. Wir haben Daten der Uni Hamburg über dokumentierte TV-Werbung aus dem Zeitraum Juni bis September 2019 analysiert.

Im Vergleich zeigt sich: 2007 haben Kinder etwa 152 Minuten täglich ferngesehen, darüber erreichten sie auch 10,14 Werbespots. 2019 haben wir mit 10,34 fast dieselbe Zahl an Werbespots gezählt, diese aber in nur 120 Minuten Fernsehzeit. Die Lebensmittelindustrie hat also die Ansprache von Kindern in der TV-Werbung um 29 Prozent erhöht. Im Internet haben wir 5,14 Werbespots für ungesunde Lebensmittel gezählt, die durchschnittlich pro Tag von Kindern rezipiert wurden.

Dr. Tobias Effertz

  • Wirtschaftswissenschaftler und Privatdozent an der Uni Hamburg
  • Forschungsschwerpunkte: u.a. Kindermarketing und Public Health und Health Economics

Wie gehen die Unternehmen genau vor?

Mit Kindermarketing bezeichnen wir Werbung, die speziell Kinder ansprechen soll. Video-Clips, Comic-Figuren, Gewinnspiele, dazu die Du-Form – all das zieht Mädchen und Jungen sofort an. In den meisten Posts dieser Art wird für Fastfood, Süßigkeiten oder auch süße Backwaren geworben. Firmen wie Mc Donalds oder Ferrero stellen dazu auf dem Video-Portal Youtube ihre bezahlte Werbung bereit.

Da Youtube sehr viele Zahlen zu seinen Nutzern hat, ist bekannt, auf welche Themen Kinder reagieren. Die Hersteller platzieren ihr Kindermarketing jedoch auch auf digitalen Plattformen, die sich thematisch an Kinder richten – wie beispielsweise Spiele-Portale.

Gefährlich ist insbesondere der ganze Social Media-Bereich?

Social-Media nimmt eine Schlüsselrolle beim Kindermarketing ein. Youtube, Facebook und Instagram sind bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. Allein auf Facebook erreichen Posts für ungesunde Lebensmittel bis zu zehn Milliarden Mal pro Jahr die Zielgruppe. Die Hersteller in der Lebensmittelindustrie arbeiten jedoch über die verschiedenen Medienkanäle hinweg.

Beispielsweise wird im TV oder Social Media ein Schokoriegel eines namhaften Herstellers mit dem Hinweis auf ein Gewinnspiel und dem QR-Code auf der Verpackung beworben. Das Kind wird darüber auf die Website des Herstellers gelotst. Dort wird ein Kinderlexikon verlost, in einem anderen Gewinnspiel geht es um ein Fahrrad oder um Möbel fürs Kinderzimmer. Damit sollen weitere digitale Kontakte zwischen Firmen und Kindern generiert werden.

Corona-Auflagen und Home-Schooling sorgen dafür, dass die Kinder deutlich mehr im Internet unterwegs sind. Verschärft dies auch das Problem des Kindermarketings?

Davon ist auszugehen, denn je länger die Kinder das Internet nutzen, umso mehr sind sie dem Kindermarketing ausgesetzt. Zudem verändern sich die gezielten Ansprachen fortlaufend und es kommen neue Portale hinzu. TikTok etwa war vor der Corona-Pandemie bei Kindern noch deutlich weniger bekannt, wird aber jetzt zusehends beliebter.

Wir haben für unsere Studie bewusst Daten von März 2019 bis Februar 2020 ausgewertet, um die Auswirkung des Mediennutzungsverhaltens durch die Corona-Krise auszuschließen. Unsere Basis sind Paneldaten eines Marktforschungsunternehmens zum Internetsurfverhalten von Kindern und zur Reichweite bestimmter Webseiten. In der Analyse haben wir uns auf Facebook, Youtube und Instagram konzentriert.

Ein Trend der Industrie ist es, eigene Werbung stärker mit anderen Themen zu vermischen, die auf den ersten Blick nichts mit Werbung zu tun haben. Zur Süßigkeit gibt es ein Ausmalbuch, zum Fastfood etwas Spielzeug.

Sie haben auch Clips von Influencern ausgewertet….

In mehr als zwei Drittel der 315 Youtube-Videos, die wir ausgewertet haben, werben Influencer für ungesunde Lebensmittel. Zum Beispiel gibt es ein Video, in dem ein etwa 10-Jähriger in der Küche zu Hause ein Fastfood-Restaurant aufbaut. Ein Spiel wie früher der Kaufladen – nur dass die Fastfood-Kette mutmaßlich die komplette Ausstattung geliefert hat und der Junge Werbebotschaften in seinem Clip übermittelt. Da geht es nicht darum, wie vielfach von Influencern behauptet, ein Produkt zu testen. Vielmehr verstärkt die Ansprache durch einen Gleichaltrigen die Werbebotschaft.

Für die Kinder verschwimmen damit die Grenzen von Alltagserleben und Werbung. Sie lernen und verinnerlichen damit die durch das Marketing künstlich geschaffenen Verknüpfungen von Marken mit bislang werbefreien Handlungen. Diese Integration des Kindermarketings droht in den kommenden Jahren weiter zuzunehmen.

Viele Werbemaßnahmen versprechen eine heile Familienwelt, andere vermitteln Wissen. Warum wählen die Eltern nicht die direkten Wege?

Die Industrie möchte gerne die Verantwortung allein auf die Eltern schieben und Kinder weiterhin mit Werbung konfrontieren dürfen. Freiwillige Verpflichtungen der Industrie – dazu liegen bereits zahlreiche Befunde vor – lösen das Problem der gesundheitsschädigenden Beeinflussung nicht. Wir brauchen deshalb ein grundsätzliches Verbot des Kindermarketings für ungesunde Lebensmittel.

Viele Kinder sind diesem dauernden Werbestrom ausgesetzt und werden damit alleingelassen. Sie und ihre Familien gilt es zu schützen. Auch die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel. Länder wie Großbritannien, Irland und skandinavische Länder haben dies bereits umgesetzt.

Die deutsche Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik handelt unverantwortlich, wenn sie die direkte Ansprache von Kindern in der Lebensmittelwerbung weiterhin zulassen will. Mit einem Verbot ließe sich im Gesundheitswesen unnötiges Krankheitsleid ersparen und viel Geld einsparen.

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