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Werden Antibiotika noch immer zu schnell verordnet?

2022 wurden insgesamt 31 Millionen Verordnungen von Antibiotika abgerechnet. Das entspricht einem Wert von 733 Millionen Euro. Der Anteil der Reserveantibiotika lag mit 42 Prozent auf ähnlichem Niveau wie 2020 und 2021.

Von Frank Brunner Veröffentlicht:
Vor allem bei Reserveantibiotika sollten sich Ärztinnen und Ärzte bei der Verordnung zurückhalten und diese nur leitlinien-gerecht einsetzen, appelliert das WIdO.

Vor allem bei Reserveantibiotika sollten sich Ärztinnen und Ärzte bei der Verordnung zurückhalten und diese nur leitlinien-gerecht einsetzen, appelliert das WIdO.

© Kzenon / stock.adobe.com

Fast jede 25. ambulante Verordnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) entfiel 2022 auf Antibiotikapräparate. Das ergab eine aktuelle Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Insgesamt wurden 2022 rund 31 Millionen Mal Antibiotika verordnet. Zum Vergleich: 2019 waren es noch 34 Millionen Verordnungen, in den folgenden Jahren sank diese Zahl auf 26 Millionen (2020) beziehungsweise 24 Millionen (2021). Trotz des neuerlichen Anstiegs verzeichnet das WIdO seit 2013 in der Tendenz sinkende Verordnungszahlen. WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder spricht von einem „grundsätzlich positiven Trend“, betont aber, dass Reserveantibiotika immer noch zu oft verordnet werden.

„Sie sollten den Leitlinien entsprechend nur im Bedarfsfall bei schweren bakteriellen Erkrankungen eingesetzt werden“, sagte Schröder. Reserveantibiotika sollten Mittel der zweiten Wahl darstellen, für deren Einsatz eine strenge Indikation vorgesehen sei. Die Einteilung in Standard- und Reserveantibiotika hat das WIdO in seiner Auswertung mit Unterstützung des Infektiologen Professor Winfried Kern vom Zentrum Infektionsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg erstellt (siehe Interview).

In einer Auswertung aller Verordnungen aus den 17 KV-Regionen waren durchschnittlich 191 Standardantibiotika-Verordnungen und 176 Verordnungen von Reserveantibiotika je 1.000 Versicherte im Jahr 2022 zu verzeichnen. Die Analyse für die einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen zeigt beachtliche regionale Unterschiede: So lag der Verordnungsanteil der Reserveantibiotika in Hamburg mit 118 Verordnungen je 1.000 GKV-Versicherte am niedrigsten, während der Anteil in Hessen mit 227 Verordnungen fast doppelt so hoch war. Bei den Gesamt-Verordnungen lag das Saarland mit 444 Verordnungen je 1.000 GKV-Versicherte an der Spitze. In Hamburg gab es auch insgesamt die wenigsten Verordnungen (276 Verordnungen je 1.000 Versicherte).

Regionale Vereinbarungen wirken

„Auch wenn bei dieser Betrachtung die Alters- und Geschlechtsstruktur der GKV-Versicherten wie auch deren Morbidität unberücksichtigt bleiben, liefert sie Hinweise darauf, dass regionale Informationskampagnen und Zielvereinbarungen das ärztliche Verschreibungsverhalten sinnvoll unterstützen können“, so Schröder.

Im Zuge des Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) hat das Bundeskabinett unter anderem verstärkte finanzielle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Reserveantibiotika angekündigt. In den vergangenen zehn Jahren waren lediglich neun von insgesamt 362 Wirkstoffen, die neu in den Markt eingeführt worden sind, Antibiotika. Zudem entfielen von den 2022 verordneten knapp 2.500 verschiedenen Wirkstoffen und Wirkstoffkombinationen nur 57 auf Reserveantibiotika.

Auch der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung verstärkt das Problem der Resistenzbildung, da die Wirkstoffe zum Beispiel über den Konsum von Fleisch oder über das Grundwasser auch vom Menschen aufgenommen werden.

Deutlich geringerer Antibiotika-Verbrauch in Tierhaltung

Zur medizinischen Versorgung der Patienten in Deutschland sind im Jahr 2022 insgesamt rund 272 Tonnen Antibiotika zum Einsatz gekommen, während es im Bereich der Tierhaltung laut einer Auswertung des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit rund 540 Tonnen waren. Auch hier ist ein positiver Trend erkennbar: Vor zehn Jahren sind in der Tierhaltung noch 1.452 Tonnen Antibiotika eingesetzt worden. Dies entspricht eine Reduzierung des Antibiotika-Verbrauchs von 63 Prozent zwischen 2012 und 2022. „Hier hat eine Anpassung im Arzneimittelgesetz gegriffen, nach der seit 2014 der Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf das therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß reduziert werden soll“, erklärte WIdO-Chef Schröder. Trotzdem bestehe immer noch die Gefahr, dass zu viele Antibiotika-Wirkstoffe mit tierischen Ausscheidungen über Kläranlagen oder als Dünger ins Oberflächen- und Grundwasser gelangten.

Auch die in den vergangenen Jahren häufig berichteten Lieferengpässe bei ausgewählten Antibiotika könnten die angespannte Situation weiter verschärfen. Vor allem betroffen von den Engpässen waren Standardantibiotika wie Amoxicillin, Phenoxymethylpenicillin und Ampicillin, aber auch Reserveantibiotika wie Cotrimoxazol und Cefaclor. Das Abweichen von der Standardtherapie auf ein anderes verfügbares (Reserve-)Antibiotikum kann die Gefahr von Resistenzbildungen erhöhen. Diverse Fachgesellschaften haben im Zuge der Lieferengpässe erneut einen bewussten und gezielten Einsatz von (Reserve)-Antibiotika gefordert. Damit in Deutschland auch weiterhin ein Versorgungsengpass bei Antibiotika vermieden werden könne, müsse der Gesetzgeber durch ein verpflichtendes Meldeverfahren von pharmazeutischen Herstellern, Großhändlern und Apotheken für eine lückenlose Transparenz über die komplette Lieferkette für Antibiotika und andere Arzneimittel sorgen, fordert Schröder.

Mehr Forschung notwendig

Das WIdO weist anlässlich der aktuellen Auswertung darauf hin, dass neben einer zurückhaltenden Verordnung in der Human- und Tiermedizin auch Wirkstoffe mit neuen Wirkprinzipien benötigt werden, die in der Lage sind, die vorhandenen Resistenzen zu überwinden. Allerdings scheint der betriebswirtschaftliche Anreiz zu fehlen: „Die Pharmaindustrie fokussiert sich lieber auf Wirkstoffe, mit denen noch höhere Preise und noch höhere Umsätze erzielt werden können“, so der Wido-Geschäftsführer. Um hier gegenzusteuern, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2018 bis zu 500 Millionen Euro für zehn Jahre bereitgestellt, mit denen unter anderem die Entwicklung neuer Antibiotika unterstützt werden soll.

Weitere Infos unter www.wido.de

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© Pikovitt44 / Getty Images / iStock

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