Beziehungen in Pandemie-Zeiten

Corona und das Ende der flüchtigen Bekanntschaften

Kein Plausch mit dem Nebenan im Fitnessstudio, kein Necken mit dem Barkeeper. Seit Monaten liegen lose Bekanntschaften auf Eis. Warum diese wichtig sind und was strukturelle Löcher bedeuten.

Von Gregor Tholl Veröffentlicht:
Netter Talk mit noch unbekannten Menschen am Tresen – auch das fehlt in der Pandemie.

Netter Talk mit noch unbekannten Menschen am Tresen – auch das fehlt in der Pandemie.

© Viacheslav Iakobchuk - stock.ado

Berlin/Köln. Die Sehnsucht nach fernen Orten und Reisen ist in Corona-Zeiten schon oft beschrieben worden. Doch in ruhigen Minuten schießt einigen auch ganz Anderes durch den Kopf: Mal wieder ein Bier in einer schmuddeligen Kneipe trinken und völlig oberflächlich mit dem Barmann oder der Barfrau plaudern. Einen kleinen Schwatz in der Kaffeeküche halten mit jemandem, der kein direkter Kollege ist. Im lauten Club eine Schönheit antanzen und ein bisschen brüllend flirten. Oder: Was macht zurzeit wohl der Aufgepumpte aus dem Fitnessstudio, der so gern über eiweißreiche Ernährung quatscht?

Mit all diesen Leuten macht ja niemand einen Zoom-Call aus oder ruft sie mal an. Oft weiß man ja nicht mal den Namen, zumindest nicht den vollen. Die Pandemie hat – bis auf Online-Freundschaften und zufällige Treffen im Supermarkt oder auf dem Wochenmarkt – flüchtige Bekanntschaften fast vollständig gekappt. Und viele merken gerade: Sie können einem ganz schön fehlen.

So kommt Nicht-Alltag ins Leben

„Schwache Beziehungen bringen neue Ideen und Sachverhalte in unseren Alltag“, sagt der Soziologe Markus Gamper von der Uni Köln. „Starke Beziehungen haben wir zu Menschen, die uns ähnlich sind, die einen ähnlichen Alltag haben, zu Leuten, die das Gleiche lesen, dieselben Serien und Filme schauen.“ Doch damit laufe man Gefahr, die ganze Zeit im eigenen Saft zu schmoren. Durch „Brücken“, also losere Netzwerke, komme „Neues, Spannendes, einfach der Nicht-Alltag“ ins Leben. „Wir brauchen Abwechslung und neue Informationen.“

Bei losen Bekanntschaften seien die gegenseitigen Erwartungen natürlich niedriger als bei engen Beziehungen, sagt Gamper, was auch wohltuend sei. Der Experte für Netzwerkanalyse hat bei dem soziologischen Fachbuch „Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten“ mitgewirkt. Enge Freundschaften seien wichtig für den emotionalen Support, doch losere seien nicht unwichtig, sagt Gamper. „Starke und schwache Beziehungen haben jeweils ihren eigenen Nutzen.“

Die soziologischen Theorien zu Netzwerken stammen aus Amerika. Der Soziologe Ronald S. Burt wies zum Beispiel nach, dass Mitarbeiter dann besonders kreativ sind, wenn sie im Job informelle Kontakte über sogenannte strukturelle Löcher hinweg pflegen. Diese „Structural Holes“ sind vor allem Abteilungs- und Funktionsgrenzen. Es komme nicht auf die Anzahl der Kontakte an, sondern darauf, Brücken zu schlagen, sich mit Leuten außerhalb des eigenen Teams zu vernetzen.

Die Bedeutung der Structural Holes

Ein anderer wichtiger Netzwerktheoretiker ist der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Mark Granovetter, der schon vor fast 50 Jahren – 1973 – den Aufsatz „The Strength of Weak Ties“ veröffentlichte. Darin definierte er unter anderem die Stärke von Beziehungen nach vier Komponenten: die Menge an Zeit, die Personen miteinander verbringen, der Grad der emotionalen Intensität, das gegenseitige Vertrauen (Intimität) und die Art der wechselseitigen (reziproken) Hilfeleistungen. Schwache Beziehungen („weak ties“) seien bei alledem nicht zu unterschätzen.

Schwache Beziehungen bringen neue Ideen und Sachverhalte in unseren Alltag.

Markus Gamper, Soziologe, Universität Köln

Psychologen haben jahrzehntelang vor allem die wichtige Funktion enger Beziehungen im Blick gehabt, also von Familie, romantischer Partnerschaft und tiefer Freundschaft. Doch dann kam die Erkenntnis, dass auch Nachbarn im Hausflur oder am Gartenzaun und Baristas im Café wichtig fürs Wohlbefinden sein können.

„Das bringt so viel Freude“

Die Sozialpsychologinnen Gillian Sandstrom und Elizabeth Dunn fanden anhand mehrerer Studien heraus, dass Leute mit einer größeren Zahl an losen Bekanntschaften dazu tendierten, insgesamt zufriedener zu sein in ihrem Leben. Je mehr Interaktion sie mit solchen vermeintlich Fremden hatten desto glücklicher waren sie.

Unter dem Motto #Talking2Strangers (also: Reden mit Fremden) propagiert Sandstrom, die an der University of Essex im englischen Colchester arbeitet, stark dafür, das eigene Verhalten anzupassen. Es könne der psychischen Gesundheit helfen, absichtlich jeden Tag mit flüchtigen Bekannten zu reden.

Sandstroms Sicht wirft einen neuen Blick auf die gefühlt zunehmend schlechte Laune in der Corona-Republik angesichts geschlossener Bars, Restaurants, Fitnessstudios und Clubs. Vorübergehend bleibt also wohl nur der Smalltalk im Lebensmittelladen, Drogeriemarkt oder Bus – natürlich vorsichtig mit Maske und mit Abstand. Doch immerhin! Die renommierte Psychologin sagt: „Das bringt so viel Freude.“ (dpa)

Schlagworte:
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

© Viacheslav Yakobchuk / AdobeStock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Springer Pflege

Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

COVID-19 in der Langzeitpflege

© Kzenon / stock.adobe.com

Springer Pflege

COVID-19 in der Langzeitpflege

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

MB-Hauptversammlung

Johna: Klinikreform ist ein Großversuch ohne Folgeabschätzung

Lesetipps
Der Hefepilz Candida auris in einer Petrischale

© Nicolas Armer / dpa / picture alliance

Krankmachender Pilz

Candida auris wird immer öfter nachgewiesen