Selbstverteidigung im Rollstuhl

Zuschlagen trotz Behinderung

Menschen im Rollstuhl werden angepöbelt und bedroht. In Langenhagen bei Hannover üben sie, sich zu wehren - mit Worten, aber auch mit Fäusten.

Von Teresa Dapp Veröffentlicht:
Die Trainer Bernd Rosemann (l) und Nils Thate erarbeiten Verteidigungstechniken mit Rollstuhlfahrern.

Die Trainer Bernd Rosemann (l) und Nils Thate erarbeiten Verteidigungstechniken mit Rollstuhlfahrern.

© Kleinschmidt / dpa

LANGENHAGEN. Aggressiv fixiert der breitschultrige Mann die Frau im Rollstuhl, er geht er auf sie zu, holt aus und zielt mit der Faust auf ihr Gesicht.

Elisabeth Geuer, die ihrem Angreifer gerade bis zum Bauchnabel reicht, bleibt gelassen, lenkt mit der linken Hand die Faust ab und schlägt selbst zu. "Nicht streicheln, ich bin doch kein Hund", ruft Nils Thate.

Er greift die Frau im Rollstuhl nicht wirklich an, sondern bringt ihr bei, sich zu wehren - in einem Selbstverteidigungs-Kurs für Rollstuhlfahrer in Langenhagen bei Hannover.

Die elf Teilnehmer haben unterschiedliche Erfahrungen mit dem Gefühl der Hilflosigkeit gemacht, das sie hier loswerden wollen. Elisabeth Geuer ist 16 Jahre alt und kam mit einem offenen Rücken zur Welt.

Bevor sie mit der Selbstverteidigung begann, drohte ihr eine Elfjährige, ihren Rollstuhl umzuwerfen. "Das wäre nicht schwer gewesen", erinnert sie sich. Ihr Bruder kam zur Hilfe, jetzt will sie lernen, sich selbst zu helfen.

Henning Schulze wird wütend, wenn er erzählt, wie Mitschüler ihn auf dem Pausenhof verprügelt haben. "Seitdem habe ich mir felsenfest vorgenommen, Abwehrtechniken zu lernen."

Damals war er 16, heute ist er 25 Jahre alt - aber die Wut ist noch da, wenn er auf das Polster in der Hand von Nils Thate boxt.

Thate führt eine Selbstverteidigungs-Schule in Bremen. Seit 20 Jahren unterrichtet der muskulöse Kampfsportler immer wieder Menschen im Rollstuhl, die Nachfrage steigt. In Langenhagen ist er zum dritten Mal, mit seinem Co-Trainer führt er die Schläge vor.

"Eigentlich ist es keine besondere Technik", erklärt er. Es gehe darum, die Kraft des Gegners gegen ihn zu richten, durch Schnelligkeit zu punkten, ihn zu überraschen.

Großes Interesse

Der Kampf im Rollstuhl hat Eigenheiten: Der Stuhl rollt zurück, wenn ein Schlag von vorn kommt. Die Gegner begegnen sich nicht auf Augenhöhe - im wörtlichen Sinn. Die Teilnehmer sollen deswegen lernen, brenzlige Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen.

"Wichtig sind Körperhaltung und Gestik, dass man nicht ängstlich wirkt und eine laute Stimme hat", erklärt Ulrike Kriebel. Sie ist zweite Vorsitzende der Rollstuhlsportgemeinschaft Langenhagen, organisiert die Kurse und nimmt selbst teil.

"Schon dass ich bestimmte Dinge weiß, gibt mir ein besseres Gefühl", erzählt sie.

Der Verein hat Thate als Trainer engagiert, nachdem ein 15-jähriges Mitglied innerhalb einer Woche zweimal angegriffen worden war. Das Landeskriminalamt führt keine Statistik darüber, wie häufig Menschen im Rollstuhl Opfer von Gewalt werden.

Holger Liedtke, Autor des Buchs "Selbstverteidigung für Rollstuhlfahrer" und Trainer für behinderte Menschen in Bremerhaven, vermutet, dass die Dunkelziffer hoch ist.

"Das ist für unsere Arbeit aber auch unwichtig", fügt er hinzu - schließlich sei es bei einem Angriff egal, ob man zu einer häufig attackierten Minderheit gehöre.

Nicht nur Selbstverteidigung, auch Kampfsport betreiben immer mehr Rollstuhlfahrer, sagt Helmut Gensler, der beim Deutschen Rollstuhl-Sportverband für Kampfkünste zuständig ist.

Mehr Selbstvertrauen sei nicht der einzige positive Effekt: "Viele Übungen sind mit einer Therapie vergleichbar, sie fördern den Aufbau von Muskeln und die Koordination."

Auch in Langenhagen zeigt Thate den Kursteilnehmern, wie sie mit flexiblen Bändern ihre Arme trainieren können.

Die Kurse sollen im neuen Jahr regelmäßig alle sechs Wochen stattfinden, das Interesse ist groß. Der 15-Jährige aus dem Verein sei ein drittes Mal attackiert worden, erzählt Ulrike Kriebel. "Aber diesmal konnte er sich wehren." (dpa)

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Berufsbedingte Schäden

Wenn Musikmachen Muskeln, Sehnen und Gelenke krank macht

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

© HL

Herbstsymposium der Paul-Martini-Stiftung

Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Metaanalyse

Subjektive Krankheitsbelastung bei Krebs prognostisch relevant

Risikofaktoren identifiziert

Für wen könnten Harnwegsinfekte gefährlich werden?

Laterale Ellbogenschmerzen

Diese sechs Kriterien sprechen gegen einen „Tennisarm“

Lesetipps
Übersichtsarbeit: Wie wirken Hochdosis-, rekombinante und mRNA-Vakzinen verglichen mit dem Standardimpfstoff?

© Sasa Visual / stock.adobe.com

Übersichtsarbeit zu Grippeimpfstoffen

Influenza-Vakzinen im Vergleich: Nutzen und Risiken

Eine junge Frau fasst sich an ihren schmerzenden Ellenbogen.

© Rabizo Anatolii / stock.adobe.com

Laterale Ellbogenschmerzen

Diese sechs Kriterien sprechen gegen einen „Tennisarm“

Serotoninkristalle, die ein Muster ergeben.

© Michael W. Davidson / Science Photo Library

Für wen passt was?

Therapie mit Antidepressiva: Auf die Nebenwirkungen kommt es an