Großbritannien

Corona-Krise: Johnson räumt Fehler ein

Optimistisch und wortgewaltig, so kennen die Briten ihren Premierminister. Nach einem Jahr im Amt äußert sich Boris Johnson aber eher vorsichtig – und gibt Fehler in der Corona-Pandemie zu.

Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer Veröffentlicht:
„Wir müssen so schnell wie möglich aus unseren Fehlern lernen“, räumt der britische Premierminister Boris Johnson nach einem Jahr Amtszeit mit Blick auf die Corona-Krise ein.

„Wir müssen so schnell wie möglich aus unseren Fehlern lernen“, räumt der britische Premierminister Boris Johnson nach einem Jahr Amtszeit mit Blick auf die Corona-Krise ein.

© Photoshot / picture alliance

London. Der britische Premierminister Boris Johnson hat nach dem ersten Jahr im Amt Fehler bei der Bekämpfung der Corona-Krise eingeräumt – und eine neue Prognose gemacht. „Natürlich gibt es Dinge, die wir falsch gemacht haben“, sagte Johnson in einem am Samstag veröffentlichten Interview des Nachrichtensenders Sky News. „Wir müssen so schnell wie möglich aus unseren Fehlern lernen.“ Das Schlimmste dürfte „Mitte nächsten Jahres“ vorbei sein. Kürzlich hatte er noch eine Rückkehr zur Normalität bis Weihnachten vorhergesagt.

Großbritannien ist das am stärksten von der Pandemie betroffene Land in Europa. Experten werfen der Regierung vor, zu spät und falsch reagiert zu haben. Viele rechnen mit einer zweiten schweren Infektionswelle im Herbst. Das könnte den maroden staatlichen Gesundheitsdienst NHS zum Kollabieren bringen. Schon während schwerer Grippeausbrüche steht der NHS fast jedes Jahr kurz vor dem Zusammenbruch. Was nun, wenn beides zusammenkommt?

Die Brexit-Folgen

Doch Johnson, der am 24. Juli vergangenen Jahres Nachfolger von Theresa May wurde, hat nicht nur mit der Pandemie zu kämpfen: Großbritannien trat zwar Ende Januar aus der Europäischen Union aus, aber die Gespräche mit Brüssel über einen Handelspakt kommen nicht voran. Eine Verlängerung der Übergangsphase, die bis Ende des Jahres dauert, lehnte der konservative Premier strikt ab. Es droht ein harter wirtschaftlicher Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen.

Und noch ein Problem: Eine knappe Mehrheit der Schotten spricht sich in Umfragen inzwischen für die Abspaltung vom Vereinigten Königreich aus. Einen der Gründe dafür sieht Wahlforscher John Curtice (Universität Strathclyde) in Johnsons Umgang mit der Pandemie. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon twitterte zu seinem jüngstem Besuch bissig, Johnsons Präsenz unterstreiche ein Hauptargument für die Unabhängigkeit: die Fähigkeit, selbst Entscheidungen in Schottland zu treffen.

Zu viele Corona-Maßnahmen gelockert?

Jeder britische Landesteil trifft seine eigenen Maßnahmen im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie. Johnson hat in England bereits viele Maßnahmen gelockert. So durften am Samstag Fitnessstudios, Hallenbäder und andere Sporteinrichtungen wieder öffnen. Schottland mit Sturgeon an der Spitze agiert insgesamt vorsichtiger.

Johnson hatte sich einst damit gebrüstet, Corona-Infizierten die Hände geschüttelt zu haben. Dann erkrankte er selbst an der Lungenkrankheit Covid-19 und kam auf die Intensivstation. Dass er sich nun bedachter zum Thema äußert, könnte auch damit zu tun haben.

Johnson: Risiko unterschätzt

Auch in einem BBC-Interview zum einjährigen Amtsjubiläum gab er sich eher kleinlaut: „Wir haben (das Virus) in den ersten Wochen und Monaten nicht in der Art und Weise verstanden, wie wir das gerne getan hätten.“ Vor allem das Ausmaß der Übertragung durch Menschen, die keine Symptome zeigten, sei unterschätzt worden. Auf die Frage, ob Ausgangsbeschränkungen zu spät verhängt worden seien, antwortete er ausweichend. Es handle sich um „offene Fragen“ unter Forschern.

Nach Angaben des Epidemiologen und Ex-Regierungsberaters Neil Ferguson vom Imperial College hätte mindestens die Hälfte der mehr als 45.500 Todesfälle verhindert werden können, wäre der Lockdown im März eine Woche früher durchgesetzt worden. Auch die massenhafte Überführung von Patienten aus Krankenhäusern in Pflegeheime, ohne sie vorher getestet zu haben, gilt Fachleuten als massiver Fehler, der Tausende das Leben gekostet haben dürfte.

Tests lange Mangelware

Vermutlich sind auch viele Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen, die nie auf das Virus getestet wurden. Zahlen der Statistikbehörden zufolge wurden schon fast 55.000 Todesfälle erfasst, bei denen Covid-19 im Totenschein erwähnt wurde. Die sogenannte Übersterblichkeit für die Zeit der Pandemie liegt Berechnungen der „Financial Times“ zufolge bei mehr als 65.000. Damit ist die Differenz zwischen der Zahl der Todesfälle in diesem Jahr und dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre gemeint.

Nach Angaben des Regierungsberaters David Spiegelhalter wird die genaue Zahl der Todesfälle in Großbritannien auch in Zukunft nicht bekannt werden. Vor allem wegen des Mangels an Tests habe man lange im Dunkeln gearbeitet. „Wir werden nie wirklich genau wissen, was passiert ist“, zitierte der „Telegraph“ den Forscher aus Cambridge.

Johnson wäre aber nicht Johnson, wenn er nicht doch seine Leistungen preisen würde. In einem Twitter-Video kündigte er an, in zwei Minuten möglichst viele Erfolge seiner Regierung aufzuzählen und ratterte los: von mehr Ärzten und Pflegern über Handelsgespräche mit anderen Staaten bis hin zum Klimaschutz. „Es gibt noch viel, viel mehr, was ich euch erzählen könnte“, sagte er zum Schluss. Aber die zwei Minuten seien schon vorbei. (dpa)

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