Bilanz des STIKO-Vorsitzenden

Virologe Mertens: „Ich könnte alle diese Impfempfehlungen auch heute noch unterschreiben“

Mehrfach hat er über einen Rücktritt nachgedacht, erzählt Thomas Mertens im Interview. Er war erschüttert, wie viel „Dummheit und Bösartigkeit“ auf ihn eingeprasselt sind. Jetzt hat der Virologe seine Arbeit als Chef der Ständigen Impfkommission beendet.

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Professor Thomas Mertens

Professor Thomas Mertens ist seit 2017 Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) gewesen.

© Kay Nietfeld / dpa

Neu-Ulm. Corona hat das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt. Und es hat Personen ins Rampenlicht gerückt, die vorher dort selten zu sehen waren. Etwa den emeritierten Ulmer Virologen Professor Thomas Mertens (73), der als Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) wissenschaftliche Empfehlungen zu Corona-Impfungen erarbeitete, damit aber immer wieder ins Kreuzfeuer unterschiedlicher Meinungen geriet. Jetzt hat der Virologe sein Engagement an der Spitze des Beratergremiums beendet. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) zieht Mertens Bilanz.

KNA: Herr Professor Mertens, Sie waren seit 2017 Vorsitzender der STIKO. Anfang November war die letzte Sitzung dieser Amtsperiode, und Sie werden dem Gremium künftig nicht mehr angehören. Wird Ihnen etwas fehlen?

Ich habe schon vor längerer Zeit gesagt, dass dies meine letzte Amtszeit ist. Auf Bitten des Bundesgesundheitsministers haben wir ja in dieser Berufungsperiode bereits ein Jahr länger gearbeitet als vorgesehen. Wir schließen auch noch einige wichtige Sachen ab, die aufgrund der COVID-19-Belastung liegengeblieben sind. Im März soll es eine neue Kommission geben. Hinter den 17 Mitgliedern der STIKO liegt eine unglaublich intensive Zeit. Wir haben uns im ersten Pandemiejahr wöchentlich zu mindestens ein- bis zwei mehrstündigen Videokonferenzen getroffen – und zwar im Nebenamt. Wir haben 25 Impfempfehlungen zu COVID erarbeitet. Und bei allem Stress immer ausgezeichnet zusammengearbeitet. Auch die Präsenz in den Medien vermisse ich nicht – im Gegenteil. Ich habe mich bewusst schon früher zunehmend aus dem Medienrummel zurückgezogen.

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Sie standen in einer Zeit im Fokus, in der die Haltung zum Impfen zu einer umkämpften Weltanschauung wurde. Haben Sie auch Drohungen erhalten?

Es gab Hunderte aufgeregte und teils heftige Mails, in denen ich auch zur Hölle gewünscht wurde. Ich wurde auch auf der Straße oder beim Einkaufen angepöbelt, aber nie körperlich bedrängt. Das alles hat mich nicht umgeworfen. Ich habe ein dickes Fell. Meine Frau hat das teilweise allerdings anders erlebt. Trotzdem liegt eine steile Lernkurve hinter mir: Ich habe den größten Teil meines Berufslebens im Elfenbeinturm der Universität verbracht. Auch da gibt es nicht nur angenehme Menschen, auch da gibt es Konflikte. Aber ich war schon erschüttert, wie viel Unwissenheit, Dummheit und Bösartigkeit in dieser Zeit auf mich eingeprasselt sind.

Gab es Momente, in denen Sie ans Aufhören gedacht haben?

Ja, ich habe mehrfach darüber nachgedacht, nach dem Motto „wie dumm muss man eigentlich sein, um so viel Ärger unbezahlt in Kauf zu nehmen“. Ich habe es aber nicht gemacht, weil ich nicht gerne etwas hinschmeiße. Auch wollte ich nicht unfair gegenüber den anderen STIKO-Kolleginnen und -Kollegen und den hervorragenden Mitarbeiterinnen der STIKO-Geschäftsstelle sein.

Würden Sie sagen, dass Deutschland gut durch die Pandemie gekommen ist?

Ich würde sagen, dass Deutschland die Pandemie trotz aller Unkenrufe recht erfolgreich gemeistert hat. Das lag auch an der vergleichsweise hohen Anzahl an Krankenhäusern und Intensivbetten. Davon haben nicht nur die Corona-Kranken profitiert, sondern auch andere schwerstkranke Patienten, die behandelt werden konnten.

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, hat der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn gesagt. Für welche Bereiche gilt das aus Ihrer Sicht?

Für die fachliche Arbeit der STIKO kann ich das nicht sagen. Was unsere Impfempfehlungen angeht, sehe ich keine wirklichen Fehler. Ich könnte alle diese Texte auch heute noch unterschreiben. Die Kritik an der STIKO war vielfach einfach falsch, was nachweislich auch die bemängelte Langsamkeit betrifft. Gesellschaftlich fallen mir da vor allem die Kontaktsperren für Kinder oder Senioren ein. Krankheitsverläufe bei Kindern waren meist unkompliziert. Sie haben viel stärker durch die Isolierungsmaßnahmen einschließlich der Schulschließungen gelitten. Andererseits muss man auch sehen, dass man im Nachhinein immer schlauer ist. Viele Entscheidungen mussten damals schnell und mit begrenztem Wissen getroffen werden.

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War Ihnen eigentlich zu Beginn der Pandemie klar, welcher Wust an Problemen da auf die Gesellschaft zukommt?

Nein. Ich habe als Virologe meinen Studenten in Vorlesungen und Seminaren etwas über die medizinischen und epidemiologischen Fragen beigebracht. Dass eine Pandemie auch ein solches Ausmaß an sozialen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen nach sich ziehen könnte, das war mir nicht bewusst. Die Frage ist, ob ein solches Wissen etwas geändert hätte.

Wo lagen aus Ihrer Sicht die zentralen Probleme beim Umgang mit Corona?

Das Beispiel der Intensivbetten zeigt, dass wir in Deutschland viel zu wenig Gesundheitsdaten haben. Bis zum Aufbau eines Intensivbettenregisters wussten wir nicht, wie viele solcher Betten wir hatten und wie viele wo belegt waren. Ich habe mehrfach auch ein Impfregister gefordert, das sehr zeitnah ausweisen kann, wie viele Menschen geimpft sind, wie wirksam diese Maßnahmen sind oder welche seltenen Nebenwirkungen es gibt. Da waren andere Länder besser aufgestellt. So ein Register ist natürlich sehr aufwändig. Ich hoffe, dass jetzt die elektronische Patientenakte auch hier Daten liefert.

War der Föderalismus ein großes Problem?

In so einer Pandemie ist ein föderales System nicht optimal. Wenn in einem Bundesland die Baumärkte schließen müssen und die Leute dann über die Landesgrenze fahren, um einzukaufen, sorgt das für sehr viel Ärger und ist als Kontaktverhinderung weniger wirksam. Wenn jedes Bundesland andere Vorgaben für Impfstationen und Impf-Anmeldungen macht, führt das zu Reibungsverlusten. Dazu kommen Konkurrenzdenken und auch politische Motivationen, zum Beispiel bei Ministerpräsidenten.

Die Kommunikation war teilweise sehr misslungen...

Meiner Meinung nach war die Kommunikation das größte Problem. Viele Politiker hatten das dringende Bedürfnis, sich häufig zu äußern. Auch viele Journalisten waren auf der Suche nach zugespitzten Formulierungen und möglichst abweichenden Meinungen – das war kein Ruhmesblatt für manche Medien. Ich selber habe das zu spüren bekommen: Ich hatte in einem längeren Blog erläutert, wie eine Impfempfehlung entsteht und abschließend gesagt, dass ich meine Enkel ohne einen für Kinder konfektionierten Impfstoff und ohne STIKO-Empfehlung zum damaligen Zeitpunkt nicht würde impfen lassen. Daraufhin wurde mir dann ständig unterstellt: Der STIKO-Chef würde seine Kinder nicht impfen lassen. Solche Verkürzungen und Vielstimmigkeit haben zu viel Verwirrung, Frust und Mythenbildung geführt. Die Menschen im Land können keine Experten sein. Letztlich haben auch radikale Impfgegner davon profitiert.

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Die STIKO wurde attackiert, weil sie aus Sicht mancher zu zögerlich gehandelt hat.

Wir standen natürlich immer unter dem Druck der unterschiedlichen Erwartungen von Politikern, Befürwortern oder Gegnern der Impfungen, haben uns aber davon nie beeinflussen lassen. Wir haben versucht, auf der Grundlage aller wissenschaftlichen Daten zu entscheiden – und diese Daten mussten ja erstmal da sein. Alles andere wäre uns später auch sicher um die Ohren geflogen. Im Sommer 2021 etwa wurde ständig argumentiert, dass Israel viel schneller sei mit dem Boostern. Israel ist aber erstens sehr viel kleiner und hat viel mehr aktuelle Gesundheitsdaten zur Verfügung. Sie haben dann die frühzeitige erste Auffrischimpfung sozusagen als bevölkerungsweite Studie betrachtet – in Deutschland undenkbar. Wir waren mit unserer ersten Empfehlung für Auffrischungsimpfungen bei Risikogruppen im Jahr 2021 nur einen Tag später als die USA.

Zwischenzeitlich hatte man das Gefühl, dass die STIKO zwischen die Fronten von Politik und Gesellschaft geraten ist. Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann beispielsweise hat ihnen vorgeworfen, sich in politische Entscheidungen einzumischen.

Auch die Wissenschaftler waren sich nicht immer einig, was zur Verwirrung beigetragen hat. Aber insbesondere viele Politiker habe ich als nicht gerade hilfreich empfunden. Da wurde nicht auf Basis von wissenschaftlichen Daten argumentiert. Da ging es darum, politischen Handlungswillen zu demonstrieren, das eigene Profil zu schärfen oder politischen Druck zu entwickeln. Da wurden teilweise schwer erträgliche Beschlüsse gefasst – etwa, wenn anfangs schnelle Impfungen von Kindern gefordert wurden, aber gleichzeitig gesagt wurde, dass der Bund keine Haftung übernimmt.

Kann man solch ein Chaos künftig vermeiden?

Ich weiß es nicht. Es braucht mehr Koordination, ehe man an die Öffentlichkeit geht. Andere Länder haben da eine andere Tradition. Da gibt es zum Beispiel zentrale Instanzen für medizinische Entscheidungen und deren Kommunikation. (KNA)

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