Armut und Gesundheit

Werden die Gesundheitschancen wieder ungleicher?

Wer arm ist, stirbt früher. Daran hat sich auch in wohlhabenden Ländern wie Deutschland bisher wenig geändert. In Großbritannien wachsen gesundheitliche Ungleichheiten sogar – warum?

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Kein Grund zum Lächeln: Die sozialen Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland haben sich nicht verringert.

Kein Grund zum Lächeln: Die sozialen Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland haben sich nicht verringert.

© M. Nazarova/stock.adobe.com

Berlin. Die gesundheitlichen Ungleichheiten in Großbritannien haben in den vergangenen Jahrzehnten offenbar zugenommen. Für Deutschland ist dieser Trend – noch – nicht festzustellen.

Stephen Jivray vom Department of Epidemiology and Public Health am University College London hat den Gesundheitszustand von Briten, die zwischen 1920 und 1922 geboren wurden, mit Angaben derer verglichen, die zwischen 1968 bis 1970 zur Welt kamen (J. Epidemiol. Community Health; 2020; 74:255-259).

Anders als viele andere Autoren hat Jivray nicht Parameter wie Bildungsstatus, Wohnverhältnisse oder Arbeitslosigkeit in den Fokus genommen, sondern das verfügbare Haushaltseinkommen. Daraufhin verglich er die Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands von rund 200.000 Menschen im Alter zwischen 30 bis 59 Jahren mit den Angaben der um 1920 Geborenen.

Ungleichverteilung ist gewachsen

Von den vor rund 100 Jahren Geborenen gaben 26 Prozent der Männer aus der ärmsten Einkommensschicht an, sie litten an einer schweren Erkrankung. In der Schicht mit dem höchsten Haushaltseinkommen berichteten dies damals nur 16 Prozent. Dagegen gaben in der um 1970 geborenen Alterskohorte 35 Prozent der einkommensschwächsten Männer an, ihre Gesundheit sei dauerhaft eingeschränkt, von ihren reichen Altersgenossen berichteten dies elf Prozent.Ähnliche, nicht ganz so starke Unterschiede zeigen sich bei Frauen.

Jivraj folgert aus den Zahlen, die gesundheitliche Ungleichheit habe sich vergrößert. Eine auffällige Parallele findet er in der Entwicklung des Gini-Koeffizienten, einem Maß, das den Grad der Ungleichverteilung von Einkommen in einer Gesellschaft wiedergibt. Denn die ungleiche Verteilung habe in Großbritannien seit dem Jahr 1979 deutlich zugenommen.

In Deutschland lägen keine Daten vor, die einen Vergleich der Gesundheitschancen von 1920 und 1970 Geborenen erlauben würden, berichtet Dr. Thomas Lampert, Leiter der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring beim Robert Koch-Institut (RKI). Allerdings gebe es keine Anhaltspunkte dafür, „dass sich die gesundheitlichen Ungleichheiten in den vergangenen 20 Jahren verringert haben“, sagte Lampert der „Ärzte Zeitung“. Anders als etwa in den USA nehme die Lebenserwartung in Deutschland weiter zu. „Allerdings hat sich dieser Anstieg in den vergangenen Jahren verlangsamt.“

Eine wichtige Datenbasis hierzulande ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), für das seit 1984 wiederkehrend Haushalte und Familien befragt werden. Danach sterben 13 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe vor Vollendung des 65. Lebensjahres. Der Unterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe macht nach Angaben des RKI bei Frauen 4,4 Jahre aus, bei Männern sind es 8,6 Jahre.

Schere ungleicher Chancen geht auf

„Wir sehen einige Aspekte, bei denen die Schere ungleicher Chancen sogar aufgeht“, berichtet Lampert. Ein Beispiel sei das Rauchverhalten – anteilig haben viel mehr Bessergestellte das Rauchen aufgegeben als Menschen aus niedrigen Einkommensgruppen. „Auch vom Trend zu mehr Bewegung und sportlicher Betätigung profitieren nicht alle Bevölkerungsgruppen. Dieses ‚Präventionsdilemma‘ ist bislang ungelöst“, so Lampert.

Zwar existiert ein breites Spektrum wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie sich soziale Ungleichheiten von Gesundheit und Krankheit im Lebensverlauf ausprägen und reproduzieren. Allerdings gibt es „keine klare Evidenz zugunsten der Priorisierung bestimmter präventiver Maßnahmen“, heißt es in einer im Herbst 2019 von der Leopoldina –  Nationale Akademie der Wissenschaften –  herausgegebenen Publikation zu „Gesundheitlicher Ungleichheit im Lebensverlauf“.

Wo sollte also Prävention am besten ansetzen: Schon bei Schwangeren, bei unterstützenden Förderprogrammen für Eltern von Kleinkindern oder im Erwachsenenalter? Forschungsergebnisse sind teils entmutigend: So wurde in Studien deutlich, wie der „starke Arm“ benachteiligter Lebens- und Arbeitsbedingungen bei Berufstätigen in das dritte Lebensalter ausstrahlt und etwa krankheitsbedingte Frühinvalidität triggert sowie Lebensqualität und Teilhabe mindert.

Populationsorientierte Programme

Untersuchungen von Präventionsprogrammen in verschiedenen westlichen Industriestaaten sind zum Ergebnis gekommen, dass es bisher in keinem Land gelungen ist, „die relative gesundheitliche Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten spürbar zu verringern“, schreiben die Herausgeber des Leopoldina-Berichts, Johannes Siegrist und Ursula Staudinger.

Sie plädieren daher für eine Neuorientierung: Das bisherige Verständnis von Gesundheitspolitik als „Förderung des Versorgungssystems“ sollte ausgeweitet werden auf das Handlungsfeld „Gesundheit der Bevölkerung“, etwa in Form nationaler Programme zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. „Soll die gesundheitliche Chancenungleichheit in Deutschland verringert werden, dann ist die Politik insgesamt gefragt“, bekräftigt auch Lampert.

Neben der Gesundheitspolitik seien Schritte in der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik nötig. Entscheidend aber sei der politische Wille, „die soziale Ungleichheit und deren Auswirkungen auf die Gesundheit zu reduzieren“.

Arm, Mann und im Osten: Sterberisiko stark erhöht

Große und valide Datensätze – ein Traum für Bevölkerungsforscher, der aufgrund der Datenschutzbestimmungen in Deutschland oft auch einer bleibt. Doch Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock konnten jüngst auf einen Schatz zugreifen: Anonymisierte Rentenversicherungsdaten von allen 27 Millionen Arbeitnehmern in Deutschland, die im Jahr 2013 zwischen 30 und 59 Jahre alt waren.

Auf dieser Basis konnten sie neue Einsichten in die sozialen Zusammenhänge von Sterberisiken gewinnen. Einen verschwindend geringen Einfluss auf das Sterberisiko hat demnach die Wohnregion. Zwar fanden die Forscher heraus, dass das Sterberisiko für Männer im Osten um ein Viertel höher ist als im Westen. Doch als sie die Einflüsse von Arbeitslosigkeit Bildung und Einkommen herausrechneten, verschwand der Unterschied.

Ebenso unbedeutend für das Sterberisiko waren Faktoren wie etwa die medizinische Infrastruktur. Was zählt, sind die sozioökonomischen Unterschiede: Männer im Osten aus der untersten Einkommens- und Bildungsschicht haben im Vergleich zu der wohlhabendsten Gruppe mit hoher Bildung ein mehr als achtmal so hohes Sterberisiko, berichten Pavel Grigoriev und Kollegen (BMJ Open 2019; online 7. Oktober).

Im Westen ist das Risiko vorzeitigen Versterbens in der untersten Schicht um den Faktor 5 erhöht. Diese enormen Unterschiede, so die Forscher, würden mehr Aufmerksamkeit des Gesetzgebers verdienen. (fst)

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