Versorgung

Multimorbidität zwingt zum Priorisieren

Für multimorbide Patienten gibt es nicht „die richtige“ Therapie. Ärzte müssen priorisieren und individuell Nutzen und Risiken abschätzen.

Von Prof. Dr. Dr. Axel Heidenreich Veröffentlicht:

WIESBADEN. Nicht nur Alte sind multimorbid, auch jeder fünfte Mittvierziger hat zwei und mehr Erkrankungen. Damit können bei diesen Patienten Leitlinien- oder „Klug entscheiden“-Empfehlungen eigentlich nicht mehr umgesetzt werden, erinnerte Professor Edouard Battegay von der Universitätsklinik in Zürich beim 17. Europäischen Kongress für Innere Medizin in Wiesbaden. Das trifft noch mehr für stationäre Patienten zu: 70 bis 90 Prozent von ihnen sind multimorbid.

Verschiedene Erkrankungen können sich gegenseitig beeinflussen, die jeweiligen Medikamente auch und natürlich wirken die Medikamente möglicherweise auch auf andere Erkrankungen ein als die primär intendierte. In einer solchen Situation gibt es nicht „die richtige“ Therapie, sondern der Arzt muss priorisieren und individuell Nutzen und Risiken abschätzen.

Das gelingt in der Praxis häufig nicht. In einer Querschnittstudie mit Patienten mit im Mittel 6,6 Erkrankungen, die in die Notfallambulanz der Universitätsklinik Zürich eingeliefert wurden, wies jeder zweite therapeutische Konflikte zwischen seinen Erkrankungen und seiner Medikation auf. Bei jedem Dritten handelte es sich um gravierende, unter Umständen lebensbedrohliche Therapiekonflikte. Das war laut Battegay auch häufig der Einweisungsgrund.

Multimorbidität sei eben mehr als die Summe der einzelnen Erkrankungen, betonte er. Um sich in der theoretisch fast unendlichen Vielfalt von Kombinationen von Erkrankungen, Medikamenten und individuellen Einflussfaktoren orientieren und Empfehlungen entwickeln zu können, schlägt Battegay vor, die besonders häufig vorkommenden Kombinationen als Cluster zu untersuchen. Als Beispiele nannte er die Cluster

  • koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Vorhofflimmern und COPD oder
  • Demenz, Depression, Hüftfraktur. Cluster können aber auch nach Medikamenten gebildet werden, die oft gemeinsam verordnet werden wie
  • Antidiabetika, Insulin, Antihypertensiva und Antithrombotika.

Beim individuellen multimorbiden Patienten in der Praxis empfiehlt Battegay, immer wieder neu die Therapieziele zu eruieren und zu priorisieren, die aktuell drängendsten Probleme für den Patienten primär anzugehen und dies immer wieder neu festzulegen und zu hinterfragen.

Für Leitlinien- und Produktentwicklung fordert er ein Umdenken. Randomisiert-kontrollierte Studien sind für die Fragen der Versorgung von multimorbiden Patienten nicht geeignet. Wie eine Lösung aussehen könnte, sagte er nicht, verwies aber auf die Flugzeugindustrie, die schließlich auch keine RCTs mache und trotzdem enorme Fortschritte erreicht habe. (fk)

Jetzt abonnieren
Schlagworte:
Mehr zum Thema

Interview zum Krankenhaus-Report 2025

Hochaltrige Patienten: Ambulante Versorgung spielt zentrale Rolle

Kooperation | In Kooperation mit: AOK-Bundesverband
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview zur Bräunungssucht

Gebräunte Haut: Wann eine Tanorexie dahinter steckt

Kasuistik

Tularämie: „Furunkel“ führte auf die falsche Fährte

Lesetipps
Positiver Schwangerschaftstest: Manche Frauen fürchten sich stark vor diesem Moment. Gedanken an eine Schwangerschaft und/oder Geburt lösen bei ihnen panische Angst aus.

© globalmoments / stock.adobe.com

Spezifische Angststörung

Was ist eigentlich Tokophobie?