Experten-Kommentar

Fettarm, kohlenhydratreich: Ein Ernährungs-Dogma ohne wissenschaftliche Evidenz

Von Prof. Stephan Martin Veröffentlicht:

Kaum ein anderer Bereich der Wissenschaft muss seit Jahren mit Negativ-Erfolgen kämpfen, wie die Ernährungswissenschaft. Seit über 30 Jahren passiert nämlich genau das Gegenteil von dem, was man bewirken will: Die Rate an Übergewicht und Adipositas steigt kontinuierlich an. Jedoch erinnert die Community der Ernährungswissenschaftler externe Beobachter eher an eine Weltreligion als an Wissenschaft!

Eine der wichtigen Glaubenssätze ist, dass Nahrungsfette gefährlich sind und dass sich die Menschen eine Ernährung mit weniger als 30 Prozent Fett, aber mindestens 50 Prozent Kohlenhydraten zu sich nehmen sollten. Eine kleine Gruppe an Ernährungswissenschaftler vertritt jedoch die Ansicht, dass die dramatische, weltweite Gewichtszunahme durch die Fettreduktion in der Nahrung überhaupt erst verursacht wurde und dass eher die Kohlenhydrate gefährlich sind.

Prof. Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

Prof. Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

© WDGZ

Diese Gruppe hat nun durch die PURE-Studie Rückenwind erhalten. Die Ergebnisse wurden Ende August beim europäischen Kardiologenkongress präsentiert und zeitgleich im Fachblatt "The Lancet" publiziert (Lancet 2017; online 28. August). In dieser prospektiven Beobachtungsstudie konnte kein günstiger Effekt einer reduzierten Fettaufnahme gefunden werden, jedoch stieg die Mortalität bei erhöhtem Kohlenhydratkonsum deutlich an. Bei dieser Studie handelt es sich – wie so oft in der Ernährungswissenschaft – um eine Beobachtungsstudie, die Assoziationen beschreibt, aber keine Kausalität klären kann.

Kontrollierte Endpunktstudien fehlen

Die Empfehlung einer Fettreduktion stammt aus dem Jahr 1977 als der US-amerikanische Kongress eine Expertenkommission einberufen hatte. Diese sollte Vorschläge erarbeiten, wie man durch eine Änderung der Ernährung das kardiovaskuläre Risiko senken kann. Da die atheromatösen Plaques Lipide enthalten und zudem in Nahrungsfetten doppelt so viele Kalorien wie in Kohlenhydraten enthalten sind, hat sich diese Kommission für die weitreichenden Empfehlungen zur Reduktion von Fetten in der Ernährung ausgesprochen. Die Empfehlungen wurden dann weltweit übernommen und in allen Ländern dieser Erde umgesetzt.

Vor zwei Jahren hat eine Forschergruppe aus Großbritannien im Rahmen eines systematischen Reviews und Metaanalyse (Open Heart 2015; 2: e000196) überprüft, welche Daten der im Jahr 1977 tagenden Kommission vorlagen. Sie kamen zum Schluss, dass damals keine wissenschaftliche Evidenz aus randomisierten Studien vorlag, die eine so weitreichende Ernährungsempfehlung hätte rechtfertigen können. Das weltweite Ernährungsexperiment wurde also auf Beobachtungsstudien und zu großen Teilen auf "Eminenz-basierten" Wahrheiten aufgebaut. Eine randomisierte Endpunktstudie mit über 7500 Personen mit einem hohen kardiovaskulären Risiko wurde erst im Jahr 2013 veröffentlicht (N Engl J Med 2013, 368: 1279-1290). In dieser Studie wurde eine fettreduzierte Ernährung mit einer mediterranen Ernährung verglichen, bei der Nahrungsfette – in der einen Gruppe Olivenöl und in der anderen Nüsse – supplementiert wurden. Diese spanische Studie musste aufgrund des Votums der unabhängigen Ethikkommission nach 4,5 Jahren abgebrochen werden: Der primäre kombinierte Endpunkt (3-MACE: tödliche kardiovaskuläre Ereignisse, Myokardinfarkt und Apoplex) lag in der fettreduzierten Kontrollgruppe signifikant um 30 Prozent höher als in den beiden Gruppen mit hoher Fettzufuhr.

Zucker- und "Low fat"-Lobby

Ganze Industriezweige fußen mittlerweile auf der Vermarktung von "low fat"-Produkten. Häufig wird dabei das fehlende Fett durch den Zusatz von Zucker ausgeglichen. Ein weiterer Grund, dass sich damals die fettarme Ernährungsempfehlung bilden konnte, lieferte eine 2016 in der Zeitschrift "JAMA Internal Medicine" publizierte Arbeit (JAMA Intern Med 2016; 176: 1680-1685). Danach sind zu dem Thema im Jahr 1967 zwei wichtige und viel zitierte Übersichtsarbeiten im "New England Journal of Medicine" publiziert worden. Wissenschaftler der Harvard Universität haben darin die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengestellt. In der Zusammenfassung – die ja in der Regel nur gelesen wird – haben sie sich auf die Nahrungsfette "als Feind" festgelegt. In der Arbeit aus dem letzten Jahr wurde nun aufgedeckt, dass die Autoren der Übersichtsarbeiten für die damalige Zeit nicht unerhebliche Honorare der Zuckerindustrie erhalten und dies verheimlicht hatten.

Langjährige Überzeugungen

Viel wichtiger als mögliche finanzielle Anreize aus der Nahrungsmittelindustrie sind heute sicher langjährige Überzeugungen. Wer 30 Jahre seines beruflichen Lebens an den Gefahren von Nahrungsfetten geforscht hat, möchte sein Lebenswerk nicht durch neue gegenteilige Erkenntnisse gefährden. Auch muss man sich den unglaublichen Aufwand einmal vorstellen, wenn man alle Patientenbroschüren mit Ratschlägen zur Ernährung komplett überarbeiten müsste. Vielleicht trifft auf die aktuelle Situation das Zitat von Max Planck zu, der resümierte: Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus.

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