Interview

Ein Jahr nach EHEC: "Viele Ärzte haben gar nicht gemeldet"

Viel wurden die Behörden während der EHEC-Epidemie gescholten. Doch auch an der Basis, bei den Ärzten, lief nicht alles rund. Im Interview zieht der Chef-Epidemiologe vom Robert Koch-Institut, Professor Gérard Krause, Lehren und spricht über selbst ernannte Experten.

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Professor Dr. med. Gérard Krause: "Wir hätten noch mehr informieren müssen."

Professor Dr. med. Gérard Krause: "Wir hätten noch mehr informieren müssen."

© Frank Ossenbrink

Ärzte Zeitung: Ein Jahr nach dem EHEC-Ausbruch diskutieren Fachleute die "Lessons learned". Was waren Ihre Lektionen, was würden Sie heute anders machen, wenn eine vergleichbare Epidemie ausbräche?

Professor Gérard Krause: Bei einem neuen Ausbruch, bei dem wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben, würde ich noch intensiver als beim letzten Mal die Fachgesellschaften informieren - nicht nur über unsere Erkenntnisse, sondern auch darüber, was wir als Nächstes tun werden.

Ärzte Zeitung: Warum gerade die Fachgesellschaften?

Krause: Ich glaube, dass viele Fragen in der Bevölkerung auch dadurch entstanden sind, weil das Wissen über Ausbruchsuntersuchungen fehlt. Dann wird vieles einfach falsch interpretiert.

Ärzte Zeitung: Mehr Transparenz also?

Krause: Unsere Aufmerksamkeit hatten wir darauf gelenkt, den Ausbruch so gut und schnell wie möglich zu untersuchen. Oft haben wir aber übersehen, dass die Menschen gerne wissen möchten, was wir gerade unternehmen, auch wenn wir noch keine abgesicherten Ergebnisse vorzuweisen haben.

Das haben wir unterschätzt. Die Informationslücke in der Bevölkerung hat dann dazu geführt, dass fundierte oder weniger fundierte Kommentare für Unruhe und Irritationen gesorgt haben.

Ärzte Zeitung: Sie meinen die selbst ernannten Experten?

Krause: Ja, es waren zwar Kollegen aus dem medizinischen Bereich, aber nicht wirklich Experten im Bereich der Infektionsepidemiologie.

Ärzte Zeitung: Sie haben die Kritik angesprochen. Die gab es auch an der ersten Fallkontrollstudie. Dem RKI wurde vorgeworfen, es habe zu schnell nicht mehr nach Sprossen gefragt.

Krause: Gerade das ist so ein Beispiel, weshalb ich sage, wir hätten noch mehr über unsere aktuellen Aktivitäten informieren müssen. Wir haben ja von Anfang an nach Sprossen gefragt.

Dass die Sprossen nicht gleich am Anfang gefunden wurden, hat damit zu tun, dass die ersten Fälle verstreute Fälle waren. Außerdem konnten sich die Patienten einfach nicht an Sprossen erinnern. Erst mit der Zeit konnten Reisegruppen identifiziert werden, die alle gemeinsam ein Restaurant besucht hatten.

Ärzte Zeitung: Sie hatten die Sprossen Tarnkappenvehikel genannt.

Krause: Das ist ein Bild, das tatsächlich für manche Lebensmittel gilt, auch Chilischoten gehören dazu. In den USA gab es 2008 einen großen Salmonellen-Ausbruch durch kontaminierte Chilischoten. Der hatte länger als unser Ausbruch gedauert, obwohl klar war, dass der Ausbruch mit Mexikanischen Restaurants zu tun hatte.

Die Kollegen in den USA hatten auch deswegen länger gebraucht, weil Chilischoten nur als Zutat verwendet, also kaum bewusst verzehrt wurden. Und auch Sprossen werden oft nur zur Garnierung eingesetzt. Deswegen konnten sich die Menschen bei unseren Befragungen anfangs nicht an die Sprossen erinnern.

Ärzte Zeitung: Der Durchbruch bei der EHEC-Epidemie kam schließlich mit der rezeptbasierten Restaurant-Kohortenstudie. Müssen Epidemiologen künftig schon früher auf solche speziellen Untersuchungen zurückgreifen?

Krause: Ja, aber nicht immer gibt es diese Möglichkeit. Es ist immer besser, wenn man weitere Dokumentationsquellen hat, und das bezieht sich nicht nur auf Lebensmittelausbrüche. Denken Sie nur an Ausbrüche in Krankenhäusern. Dort haben wir Krankenakten zur Verfügung.

Bei Lebensmittelausbrüchen können wir manchmal Einkaufslisten oder elektronische Abrechnungen benutzen. Das benötigt oft aber Zeit, und es gibt besondere Datenschutzaspekte die beachtet werden müssen.

Ärzte Zeitung: Ein anderes Thema: Noch während des Ausbruchs standen die Meldewege in die Kritik. Gesundheitsminister Bahr will sie verkürzen. Bringt uns das wirklich etwas?

Krause: Nicht der Meldeweg vom Arzt zum Gesundheitsamt, sondern der Übermittlungsweg vom Gesundheitsamt zum RKI soll verkürzt werden, das ist sinnvoll. Wir dürfen aber Erfassung und Früherkennung nicht auf die Übermittlung der Meldung zum RKI reduzieren.

Mindestens genauso wichtig ist, dass Ärzte, Krankenhäuser und Labore die Fälle überhaupt erst einmal dem Gesundheitsamt melden. Das Gesundheitsamt kann schließlich nur übermitteln, was es an Informationen erhalten hat.

Ärzte Zeitung: Sie sagen also, dass ein Pferdefuß immer noch die Meldung vom Arzt und vom Labor zum Gesundheitsamt ist?

Krause: Ja, das ist zu wenig diskutiert worden. Die unverzügliche Meldung ist nicht immer gelungen. Auch die Diagnostik wurde oft nicht gemacht. Und selbst wenn sie gemacht wurde, wurden einige Fälle nicht gemeldet.

Gerade bei diesem Ausbruch war aber schon das klinische Bild meldepflichtig. Leider haben aber viele Ärzte ihre Meldepflicht nicht wahrgenommen.

Ärzte Zeitung: Sie hatten mit Ihrem Kollegen Mathias Altmann kurz nach der Epidemie Daten publiziert, wonach die Ärzte kurz nach dem Ausbruch äußerst schnell gemeldet haben. Vom Gesundheitsamt zum RKI brauchte die Meldung dann trotzdem im Schnitt drei Tage. Hängt es also nicht doch eher zwischen den Behörden?

Krause: Nur bedingt, denn viel wesentlicher ist es, dass auch jeder Fall gemeldet wird, nicht nur das die Meldung schnell erfolgt. Das konnten wir in dieser Studie aber nicht analysieren. Das Erkennen eines Ausbruchs hängt letztlich davon ab, ob wirklich alle Fälle erkannt und auch gemeldet werden.

Ärzte Zeitung: Wäre es für die Zukunft nicht eine denkbare Option, direkte Meldungen von den Laboren und Ärzten zum RKI zu etablieren?

Krause: Das ist keine gute Idee. Damit würden wir vielleicht die Übermittlungsverzögerung beseitigen, aber ein viel größeres Problem schaffen, denn die meisten Ausbrüche müssen erst einmal vor Ort erkannt und bekämpft werden. Deswegen brauchen wir die Information zuerst beim Gesundheitsamt.

Ärzte Zeitung: Die Meldewege sollen also wie gehabt bestehen bleiben?

Krause: Nicht ganz, denn wir sind gerade dabei, ein neues System zu planen, mit dem wir künftig vermeiden wollen, dass Informationen erst erheblich verzögert zur Landes- und Bundesebene durchdringen.

Ärzte Zeitung: Was bleibt, sind die nicht gemeldeten Fälle. Wie wollen Sie Ärzte in Klinik und Praxis künftig besser zur Meldung motivieren?

Krause: Meistens ist das gar kein böser Wille, sondern Vergesslichkeit, Nachlässigkeit oder unzureichendes Problembewusstsein. Die Meldung wird oft als Bürokratie wahrgenommen und nicht als ganz konkrete ärztliche Handlung zum Schutz von Menschen.

Ärzte Zeitung: Kann die Technik helfen?

Krause: Wir pilotieren derzeit Systeme, bei denen die elektronischen Arztinformationsysteme den Arzt daran erinnern, dass eine Diagnose ein meldepflichtiger Sachverhalt sein könnte.

Außerdem sollte wir überlegen, diese Meldung so automatisch wie möglich abzusetzen, ohne dass große Formulare ausgefüllt werden müssen. Das würde auch dem Gesundheitsamt nützen, das nicht erst die Handschrift entziffern oder die Daten interpretieren muss.

Ärzte Zeitung: Noch einmal zu den Gesundheitsämtern. Ihr Kollege Dirk Werber hatte jüngst gesagt, es sei nicht so einfach, die Behörden anzurufen ...

Krause: ... das hat einen anderen Hintergrund. Er meinte die klaren Zuständigkeiten in der föderalen Struktur. Wir können nicht einfach so im Gesundheitsamt anrufen, ohne die Zuständigkeit der Landesbehörden zu berücksichtigen.

Das bedeutet durchaus auch mal Verzögerungen, aber wir legen viel Wert darauf, dass alle zuständigen Stellen stets denselben Informationsstand haben.

Ärzte Zeitung: Ist dieser Umweg denn wirklich sinnvoll?

Krause: Natürlich. Auch Länder, die nicht föderal strukturiert sind, wie etwa Frankreich, haben ihre Zwischenstrukturen. Ein direktes Durchkommunizieren gibt es auch dort nicht.

Ärzte Zeitung: Sie sagen also, dass diese föderale Struktur gut ist?

Krause: In mancher Hinsicht erschwert es natürlich die unmittelbare Arbeit, aber es gibt gute Gründe, warum man das so organisiert hat. Man muss sehen, dass man in dieser Struktur maximale Effizienz hinbekommt.

Ärzte Zeitung: Wie wäre es mit etwas Zukunftsmusik: Ihr Kollege Peter Gerner-Schmidt von den CDC wirbt für sogenannte Metagenomics, also Erregerdiagnostik via USB-Stick. In zehn Jahren will er das in den USA eingeführt haben. Ist das auch ein Modell für Deutschland?

Krause: Das ist eine Kostenfrage. Die technischen Möglichkeiten werden immer besser und billiger. Aber auch mit diesen Lösungen hängt es davon ab, ob überhaupt eine Diagnostik veranlasst wird.

Wir müssen zunächst die Finanzierung dafür klären. Nur dann kann man hoffen, dass Ärzte die Diagnostik überhaupt in die Wege leiten. Wenn kein Stuhl untersucht wird, nützt auch die beste Labordiagnostik nichts.

Außerdem muss die immense Datenflut von den Chips in einem einheitlichen Informationssystem verarbeitet werden. Das bedeutet einen immensen Aufwand, der enorme Investitionen erfordert. Rein technisch ist das möglich.

Ärzte Zeitung: Damit sind wir bei den Kosten für das Kliniklabor. Viele Krankenhäuser würden teure Diagnostik sicherlich scheuen, wenn die Finanzierung nicht geklärt ist.

Krause: Genau. Heute nutzen wir die von Ausbrüchen und Infektionen erhobenen Daten aus dem Gesundheitsversorgungswesen für die Früherkennung. Es ist aber nicht so, dass diese Diagnostik vom Gesundheitsdienst bezahlt wird.

Die finanziellen Mittel des öffentlichen Gesundheitsdienstes sind ja begrenzt. Die Frage ist also, aus welchen Teilbudgets das kommt.

Ärzte Zeitung: Brauchen wir also für den ÖGD extra Budgets, aus denen Früherkennung und Diagnostik bezahlt werden?

Krause: Es sollte zumindest diskutiert werden, wie diagnostische Maßnahmen finanziert werden, die nicht unmittelbar für die Therapie, sondern für die Früherkennung und den Infektionsschutz nötig sind. Das wäre sicherlich ein sinnvoller erster Schritt hin zu einer Verbesserung.

Das Interview führte Denis Nößler.

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