Im Lungenklinikum nisten die Tauben

Der Kampf gegen multiresistente Tuberkulose ist in Indien fast aussichtslos. Da sich Familien gegenseitig infizieren, werden Kinder oft von den Eltern getrennt.

Von Thomas Grether Veröffentlicht:

NEU-DELHI. Draußen blühen die Bäume um die Wette. Innen kämpfen Pfleger und Ärzte des Rajen Babu Hospitals um 1150 todkranke, mit Tuberkulose (TB) infizierte Patienten. Die meisten haben multiresistente TB (MDR-TB), tragen Keime in sich, gegen die die Standard-Medikamente Isoniazid und Rifampicin nicht wirken. Seit 1974 hat das vor fast hundert Jahren eröffnete Haus eine Kinderstation.

Seit 17 Monaten ist die zwölfjährige Shivangi in der Klinik. Sie hofft, bald zu ihren Eltern zu können.

Westliche Hygienestandards gelten hier nicht. Fließendes Wasser fürs Händewaschen - Fehlanzeige. Auf den Toiletten funktioniert keine Spülung. Tauben fliegen durchs Krankenzimmer, nisten vor der Luftansaugung der Klimaanlage. Dennoch wurden dort im vergangenen Jahr 4100 TB-Patienten als geheilt entlassen. Die Schwestern versuchen, den Mangel mit Herzenswärme auszugleichen. Die zwölfjährige Shivangi liegt seit 17 Monaten hier. Ihre Familie darf sie nicht besuchen. Die Ärzte haben Angst, das Mädchen könnte erneut angesteckt werden. Ihre Augen leuchten, als sie erzählt, in etwa sechs Wochen entlassen zu werden.

In der Region von Neu-Delhi kümmert sich die Regierung

Shivangi hat Glück, in der Region Delhi aufzuwachsen, wo etwa 20 Millionen Menschen leben. Denn dort kümmert sich die Politik um die Tuberkulose. Die Stadt ist in 24 TB-Distrikte aufgeteilt mit 30 so genannten DOT-Centers. DOT steht für "Directly Observe Treatment"; täglich müssen die Infizierten unter Aufsicht ihre Medikamente nehmen. Neuerdings wird das DOT-Plus-Programm in Delhi angewendet, was die gesamte Familie mit einbezieht: Wer nicht täglich kommt und Medikamente schluckt, wird besucht.

Shivangi und ihre ebenfalls TB-kranken Eltern sind einem Sozialarbeiter der Hilfsorganisation "TB Alert India" aufgefallen. Familie und Kinder hatten Gewicht abgenommen, viele Wochen unter Müdigkeit und leichtem Fieber gelitten. Anhand dreier Sputum-Kontrollen fiel dem Laboranten im DOT-Center des Slums sofort auf, dass die ganze Familie infiziert ist. Weil es der damals Elfjährigen sehr schlecht ging, musste sie ins Rajen Babu Hospitals. Um die Eltern und die drei älteren Geschwister kümmern sich jetzt Sozialarbeiter von "TB Alert India".

Der Pharmahersteller Lilly sponsert solche TB-Hilfsprojekte weltweit jährlich mit 13 Millionen US-Dollar. Mit dem Geld wird vor allem die Ausbildung von TB-Trainern finanziert, die Krankenschwestern in die medikamentöse Therapie einweisen. Lilly hält nach Angaben von Christopher Wiegand, Deutschland-Sprecher des US-Pharmaherstellers, die zwei wichtigsten Patente zur Therapie der MDR-TB, die Antibiotika Capreomycin und Cycloserin. Die Lizenzrechte hat Lilly unentgeltlich an örtliche Generika-Hersteller übertragen.

In der Klinik in Delhi werden TB-Infizierte unentgeltlich behandelt. Solche Einrichtungen fehlen in Indien auf dem Lande. Weil die MDR-TB-Patienten bis zu 72 Monate lang Cocktails aus bis zu zehn verschiedenen Antibiotika nehmen müssen, wäre das für Shivangis Eltern unerschwinglich. Denn sie haben, wie 80 Prozent aller Inder, keine Krankenversicherung. "Tuberkulose ist eine soziale Krankheit", sagt Klinikdirektor Dr. Jayant N. Banavaliker. "Dort, wo Menschen auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen zusammen leben, breitet sich die Krankheit schnell aus."

Ärzte in der Provinz wissen oft zu wenig über TB

Das wahre Ausmaß der "Multiresistenz-Tragödie", wie der Krankenhauschef das nennt, könne nur geschätzt werden. Banavaliker vermutet, jeder zehnte der 1,1 Milliarden Inder trage den TB-Erreger in sich. Wer durch Vorerkrankungen ein geschwächtes Immunsystem habe, erkranke schnell. So erleidet nach den Worten des TB-Forschers Professor Lee B. Reichman von der New Jersey Medical School jeder dritte HIV-Infizierte weltweit auch noch eine TB-Infektion.

Zu viele Ärzte in Provinzen fernab der größeren Städte wüssten nicht genug über die Krankheit, sagt der Arzt Dr. Dharam Prakesh, Generalsekretär der Indian Medical Association. Laut einer Erhebung unter 449 Ärzten aus den indischen Provinzen befolgten 45 Prozent der Befragten nicht die TB-Leitlinien der WHO. Sogar Dreiviertel der Mediziner hätten falsche Medikamentenkombinationen verschrieben, sagte Prakesh der "Ärzte Zeitung".

Auch deswegen stecke ein MDR-TB-Patient 20 Gesunde an, die dann auch gleich an der multiresistenten Form der Krankheit litten, kritisierte US-Forscher Reichman. Gleichwohl lobt er die Anstrengungen der Inder, die das Problem - anders als China -nicht unter den Teppich kehrten.

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