Ein Schausteller setzt kein Bein in die Praxis

Heute hier, morgen dort: Schausteller sind eine ganz spezielle Patientengruppe, die selten zum Arzt geht. Ein Team von Ärzten in Freiburg betreut sie seit zehn Jahren.

Von Ulla Bettge Veröffentlicht:
Der Arzt Alexander Heisler kommt oft nach seiner eigentlichen Sprechstunde auf den Festplatz und betreut dort die Schausteller.

Der Arzt Alexander Heisler kommt oft nach seiner eigentlichen Sprechstunde auf den Festplatz und betreut dort die Schausteller.

© Foto: Klaus Polkowski

FREIBURG. Mit der Gesundheit von Schaustellern, die heute hier und morgen sonst wo unterwegs sind, ist das so eine Sache. Und mit dem Gang zum Arzt erst recht. Helmut Frey, Freiburger Urgestein in der bundesweit 6000 Mitglieder zählenden Fahrenden-Familie, bringt es auf den Punkt: "Wir haben Angst und keine Zeit. Wenn wir eine Arztpraxis nur sehen, gehen wir schon rückwärts." Da hilft ärztliches Entgegenkommen -  wie eine seit nun fast zehn Jahren bestehende Kooperation zwischen Ärzten und Patienten von der Freiburger Mess' zeigt.

Es begann damit, dass Frey, der sich bei einer Veranstaltung "was geholt" hatte, sich durch Vermittlung eines Freundes dem Allgemeinarzt und zelterfahrenen Leiter des FreiburgerZelt Musik Festivals (ZMF), Alexander Heisler, anvertraute. "Der het mir e Spritz gebbe, un rum wars." Das überzeugte in der medicophoben Truppe, die jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst während des zehntägigen Volksfests mit rund 400 Mitarbeitern vor Ort ist.

Ein Netz aus Fachärzten unterstützt den Hausarzt

Durch Heislers Vermittlung entstand über die Jahre ein Netz von Kollegen im Freiburger Raum, die für die meist kurzfristig anfallende Behandlung von Schaustellern zur Verfügung stehen. Mit im Team: Augenarzt, Chirurg, Diabetologe, Physiotherapeutin, Schmerztherapeut und ein Zahnarzt.

Die Zusammenarbeit funktioniert so: Im Fall von benötigter ärztlicher Hilfe wenden sich die Schausteller an "Alex", der -  meistens nach Praxisschluss - "aber auch mal sofort kommt, einen ins Auto packt und zum Spezialisten fährt, wenn es ganz dringend ist". Oder er vermittelt den Patienten an einen Fachkollegen, wenn es weniger eilt. Schaustellerkrankheiten, so die Erfahrung der Ärzte, entstehen zu 80 Prozent durch den "stressigen Beruf" mit dauerndem Standortwechsel und Zeitdruck. Typisch bei viel anstrengender körperlicher Arbeit sind orthopädische Probleme, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, sowie Bluthochdruck und die Angst vor allem, was die Arbeit stören könnte.

Das Projekt funktioniert nur auf Vertrauensbasis

Der Diabetologe Frank Richter: "Gerüstarbeiter, die in großer Höhe arbeiten, haben Angst vor Insulinpillen und einer möglichen Unterzuckerung mit Konzentrationsstörungen, Schwindel und dem möglichen Verlust von Leben oder Arbeitsplatz. Schon deshalb meiden sie den Arzt."

Der Spezialist verordnet Medikamente, die nicht unterzuckern oder "Insulin mit einer speziellen Schulung, die die Angst vor Unterzuckerung und Leistungseinschränkung nimmt". Das Konzept hat die Zielgruppe zwar noch nicht völlig angenommen, doch das jahrelange Vertrauen zahlt sich langsam aus. Richter: "Zu einem Arzt, den sie nicht kennen, würden diese Leute auf gar keinen Fall gehen."

"Kirmes-Kollegen" tauschen sich regelmäßig aus

Ein ähnliches Projekt wie bei der Mess' in Freiburg gibt es bundesweit nur noch auf dem Cannstadter Wasen in Stuttgart. Seit über 25 Jahren, schätzt Frey, läuft der Chirurg Rolf Kübler dort "mit dem Arztköfferle über den Platz". Bei gemeinsamen Patienten tauschen sich die "Kirmes-Kollegen" aus Freiburg und Stuttgart regelmäßig aus, was Zeit spart.

Oder, wie Frey es sagt: "Für uns ist das ein Segen - eine Zugmaschine kommt schneller in die Werkstatt, als ein Schausteller zum Arzt. Wir haben weder Zeit noch Nerven für eine Stunde im Wartezimmer - wenn man im Kopf hat, was in einer Stunde so alles passieren kann." Positive Bilanz auch von Heisler, der sich manchmal wie ein "Rangierer am Güterbahnhof" fühlt. "Auch wenn wir die Schausteller nur zweimal im Jahr sehen, haben sich dauerhafte Arzt-Patienten-Beziehungen entwickelt. Unser Konzept der Medizin der kurzen Wege ist aufgegangen."

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