Gewalt gegen Frauen

Jährlich über 100.000 Opfer in Deutschland

Belästigt, misshandelt und vergewaltigt - im schlimmsten Fall von Männern ermordet. Über 100.000 Frauen in Deutschland werden pro Jahr wegen ihres Geschlechts Opfer von Gewalt.

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Geschlagen und gepeinigt vom Partner: Über 100.000 Frauen in Deutschland werden pro Jahr wegen ihres Geschlechts Opfer von Gewalt.

Geschlagen und gepeinigt vom Partner: Über 100.000 Frauen in Deutschland werden pro Jahr wegen ihres Geschlechts Opfer von Gewalt.

© Miriam Dörr / Fotolia

BERLIN. Ein sonniger Tag im Sommer 2016: An einer Bushaltestelle im bayerischen Schweinfurt sticht ein Mann von hinten auf eine Frau ein - auf seine Frau. 18 Mal. Autos fahren hupend vorbei. Als ein Zeuge zur Hilfe kommt, liegt die Frau in einer Blutlache. Nur eine Notoperation kann sie in letzter Minute retten.

"Er hat sich bewusst ausgesucht, wohin er sticht. Er hat sich nicht davon stören lassen, dass es am helllichten Tag war. " Der Tat sei sein 20 Jahre dauerndes Martyrium vorausgegangen, so schildert der Schweinfurter Rechtsanwalt Jürgen Scholl die Tat. Er hat die Frau als Nebenklägerin vor Gericht vertreten, als ihr Mann im März 2017 wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Sie hat überlegt, fürchtet aber den Tag, an dem er aus der Haft entlassen wird.

331 Frauen getötet

In Deutschland wurden im Jahr 2015 nach Angaben des Bundeskriminalamtes, kurz BKA, 331 Frauen von ihrem Partner oder Ex getötet. Insgesamt machten mehr als 104 000 Frauen Erfahrungen mit Gewalt in der Beziehung - Tendenz seit 2012 leicht steigend. Gesicherte Zahlen, wie viele Frauen wegen ihres Geschlechts weltweit umgebracht werden, existieren jedoch nicht. Schätzungen gehen von rund 66 000 Fällen pro Jahr aus.

Mindestens 5000 Frauen werden jährlich im Namen einer angeblichen "Familienehre" umgebracht - vor allem im Mittleren Osten und in Südasien. Ein auf dem indischen Subkontinent zudem weit verbreitetes Motiv ist der Streit um Mitgift: Tausende frisch verheiratete Frauen sterben, weil die Aussteuer der neuen Familie nicht ausreichte. Aus Sicht der Vereinten Nationen legen die verfügbaren Daten nahe, dass von den 25 für Frauen gefährlichsten Ländern der Welt 14 in Lateinamerika und der Karibik liegen.

Ein Mann tötet seine Partnerin - in manchen Ländern wie Italien wird dieses Phänomen unter einem eigenen Namen wie "femminicidio" - in Fachsprache Femizid - diskutiert. Das ist angelehnt an das lateinische femina, also Frau. Bei uns ist die Begriffswahl oft allgemeiner, weniger geschlechtsbezogen wie Beziehungstat, Partnerschaftsgewalt und - noch breiter - häusliche Gewalt.

Das Phänomen der schweren Partnerschaftsgewalt erfahre immer mehr mediale Aufmerksamkeit, sagt Jens Luedtke, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Uni Augsburg. "Das Dunkelfeld wird heller ausgeleuchtet." Er betont zwar, dass es auch Frauen gibt, die in Beziehungen Gewalt ausüben. Aber: "Einfach gesagt: Je härter die Verletzungsfolge wird, desto höher wird der Männerüberschuss." Das BKA geht davon aus, dass mehr als 80 Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen Frauen sind.

Abwärtsspirale der Aggression

Zwar seien Einzelfälle von Kurzschluss-Taten bekannt. Meist handle es sich aber um eine Abwärtsspirale der Gewalt, die zum Strudel werde. "Bis es zu heftiger körperlicher Gewalt kommt, gibt es in den meisten Fällen eine Vorgeschichte, und die schaukelt sich hoch", sagt Luedtke. "Gewalt gegen die Frau kommt umso häufiger vor, je traditioneller die Familien organisiert und je konservativer die Geschlechterrollenvorstellungen sind."

Ein kritischer Punkt: das erste Kind. "Wenn Kinder kommen, bedeutet das auch heute noch oft eine Re-Traditionalisierung der Familienorganisation, weil immer noch meistens die Frau zu Hause bleibt. Außerdem können Überforderungen und Überlastungen auftreten."

Oft, so sagt Luedtke, starten die Probleme, die tödlich enden können, aber auch schon, wenn ein Paar zusammen zieht - "wenn eine Person in den Einflussbereich einer anderen gerät".

Ursula Geiger-Gronau hat schon sehr viele traurige Geschichten gehört. Seit 2008 arbeitet die Sozialpädagogin für die Münchner Frauenhilfe. Sie weiß, wie Gewalt sich einschleicht in das, was eigentlich Liebe sein soll: "Eifersucht und ein dominantes Verhalten verbunden mit Kontrolle und Abwertung sind erste Warnzeichen."

Es gibt auch harmonische Phasen

"Die häusliche Gewalt hat eine ganz eigene Dynamik", sagt Geiger-Gronau. "Es gibt ja immer wieder auch Zeiten, die gut sind. Wir haben hier oft den klassischen Verlauf wie im Lehrbuch: Es kommt zu einem Streit, es kommt zu den ersten Handgreiflichkeiten. Danach kommt erst eine Phase des großen Entsetzens, der Entschuldigung - und dann eine relativ gute und harmonische Zeit, in der jeder sich viel Mühe gibt." Beim nächsten Konflikt aber komme die nächste Gewalt-Eskalation. Beide fänden aus dieser Dynamik nicht heraus.

Die große Tragik: Mit der Dauer der Gewalt verliert die Frau nach Angaben Geiger-Gronaus an Selbstbewusstsein, wird oft zusätzlich von Freunden und der Familie isoliert. Oder sie isoliert sich selbst, weil sie sich schämt. "Wenn er dich Miststück nennt und das Letzte, dann fühlst du dich irgendwann auch so", erzählt ei betroffene Frau. Und so scheint der Ausweg aus der Gewaltspirale immer schwieriger.

Andreas Schmiedel, Sozialpädagoge im Münchner Informationszentrum für Männer (MIM), erklärt die Gemütslage vieler Täter so: "Bei denen staut sich etwas auf, und das kann sich in Gewalt entladen. Oder sie haben grundsätzlich dieses Gefühl von Unterlegenheit. In einer gleichberechtigten Paarbeziehung erleben sie sich als unterlegen und wollen dieses Gefühl durch Gewalt korrigieren."

Schmiedel erläutert: "Wenn bei häuslicher Gewalt nicht interveniert wird, bleibt sie im günstigsten Fall auf dem gleichen Niveau. Aber in aller Regel eskaliert es." Gewalt sei eine Entscheidung, sagt er. Aber: "Das ist keine Entschuldigung. Das kann nur das Verständnis erleichtern." (dpa)

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