Interview

"Wissenschaft führt zu 99,9 Prozent zu Frustration"

Für den Schweizer Immunologen und Nobelpreisträger Professor Rolf Zinkernagel ist die heutige Qualität der medizinischen Forschung "fantastisch".

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
"Wissenschaft führt zu 99,9 Prozent zu Frustration"

© Christian Flemming

Ärzte Zeitung: Professor Zinkernagel, bitte beschreiben Sie kurz, wofür sie 1996 – gemeinsam mit Peter Doherty – mit dem Medizinnobelpreis geehrt worden sind.

Prof. Zinkernagel: Wir haben durch ein zufälliges Experiment gefunden, dass die zelluläre Immunabwehr jedes Menschen die Zelloberflächen darauf überprüft, ob die Strukturen normal oder verändert sind. Die Veränderung – das war das Überraschende – geschieht durch Infektionen der Zellen, etwa durch ein Virus.

Das Immunsystem erkennt diesen Unterschied und kann diese Zelle zerstören. Wir konnten zeigen, dass die sogenannten Transplantationsantigene eigentlich falsch benannt sind, denn sie sind die Präsentierteller jeder einzelnen Zelle, auf denen Fragmente von Viren oder intrazellulären Parasiten an der Zelloberfläche gezeigt werden.

Ihre Entdeckung von 1973 wird als revolutionär bezeichnet. Warum?

Professor em. Rolf M. Zinkernagel

1970: Promotion zum Dr. med., Universität Basel, Schweiz

Von 1992 bis 2008 Ordentlicher Professor und Direktor des Institutes für Experimentelle Immunologie, Universität Zürich, Schweiz

1996 Medizinnobelpreis gemeinsam mit Professor Peter Doherty, Universität Melbourne, Australien

Seit 2008 emeritiert

Zinkernagel: Ich glaube, sie war einfach unerwartet. Und es ist eine Entdeckung, die nicht vorausgesehen werden konnte.

Wo haben Ihre Entdeckungen einen Nutzen in der Medizin gebracht?

Zinkernagel: Etwa in der Tumortherapie bei der Herstellung von CAR-T-Zellen. Diese Strategie funktioniert zum Beispiel bei einer Leukämie, die resistent ist gegen eine Chemotherapie. Bei dieser Zelltherapie wird ein Rezeptor verwendet, der die Leukämiezellen ganz allgemein und zusätzlich ein allgemeines Merkmal der Tumorzellen erkennt, etwa das einer B-Zellleukämie.

Die drastische Behandlung setzt man in der dritten Therapielinie ein. Damit erreicht man fast alle Krebszellen bis auf ein paar Ausreißer. Es gibt erste Evidenzen, dass das Gleiche bei manchen gut durchbluteten Tumoren auch funktioniert, etwa bei bestimmten Lungentumoren.

Von peripheren soliden Tumoren weiß man, dass sie alle Kapseln tragen, etwa Fibroblastenkapseln. Für einen Effektormechanismus ist es wie bei einem Granulom in der Lunge praktisch nicht oder noch nicht möglich, diese Barrieren erfolgreich zu durchstoßen.

S ie sind Arzt und verfolgen die Entwicklung in der Medizin sicherlich auch heute noch sehr genau. Welchen Stellenwert wird die Immunologie hier künftig haben?

Zinkernagel: Das ist auch eine die Gesellschaft betreffende Frage. Solange eine Bevölkerung wie die in der Schweiz oder in Deutschland so viele Impfgegner hat, ist diese Frage fast ein Witz.

Wir sind als Wissenschaftler noch nicht in der Lage, unterstützt von Politikern, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass eine Impfung etwa gegen Masern absolut notwendig ist, weil eine schwerwiegende Komplikation nach Infektion mit Wildtypviren, die chronische Enzephalitis SSPE, durch die Impfung um den Faktor 1000 reduziert wird.

Diese Zahl ist weltweit belegt. Ein Standardargument von Impfgegnern ist zu sagen, eine natürliche Infektion brauche man, um den Charakter des Kindes zu stärken. Da muss man fragen, wo die Evidenz zu finden ist. Wie können Impfgegner die Evidenz von SSPE negieren?

Auch in der Tumorimmunologie und bei Autoimmunkrankheiten wie rheumatoider Arthritis wird sich noch Vieles tun. Die in den vergangenen 30 Jahren entdeckten Zytokine, die fördernd oder supprimierend wirken, werden bereits heute erfolgreich therapeutisch genutzt. In der Tumorimmunologie sind die Erwartungen ganz anders. Denn die meisten Tumoren entstehen ab 60 bis 80 Jahren, anders als Autoimmunkrankheiten, die vor allem Jüngere zwischen 30 und 50 betreffen. Bei den Jüngeren versucht man eher, Nebenwirkungen zu vermeiden. Bei Älteren schaut man mehr auf durch die Therapie gewonnene Lebensjahre.

Wie beurteilen Sie die Qualität der heutigen medizinischen Forschung?

Zinkernagel: Grundsätzlich betrachtet ist sie fantastisch. Die Medizin ist immer sehr pragmatisch gewesen, wie das Beispiel rheumatoide Arthritis zeigt. Man hat zum Beispiel Zytostatika zur Immunsuppression verwendet und gesehen, dass man bei der Autoimmunkrankheit etwas erreichen kann.

Wie oft haben Sie die Nobelpreisträgertagung in Lindau bisher besucht, und was ist für Sie der Reiz daran?

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Zinkernagel: Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren war es dreimal, jeweils die Medizinertagung. In diesem Jahr war zum Beispiel Peter Doherty auch hier. Mit ihm habe ich das im Vorfeld abgemacht. Ich treffe hier Wissenschaftler, die ich sonst wenig sehe, und das ist der Reiz der Tagung.

Wie gut ist auf der Tagung der Kontakt zu den jungen Wissenschaftlern?

Zinkernagel: Die Gespräche mit ihnen sind zwar nur punktuell. Jedes Gespräch kann aber potentiell über die nächsten zehn Jahre irgendeine Weiche stellen helfen.

Welchen Rat würden Sie diesen Jungforschern für eine erfolgreiche Wissenschaftskarriere mit auf den Weg geben?

Zinkernagel: Ich würde ihnen raten, ein wissenschaftliches Problem oder eine wissenschaftliche Frage zu finden, das oder die sie wirklich interessiert. Wissenschaft führt zu 99,9 Prozent zu Frustration. Mit diesem negativen Input zu überleben, das ist fast das Wichtigste.

Und da hat ein Jungforscher, der Medizin studiert hat, einen gewissen Vorteil, weil man die Problematik nach physiologisch oder pathologisch wichtigen Fragen auszurichten versucht. Weil man weiß, wenn eine Krankheit entsteht, ist das der Beweis dafür, dass, was auch immer da falsch gelaufen ist, wichtig ist, sonst würden wir ja nicht krank. Das ergibt eine wunderbare Auslese der wichtigen Probleme.

Vor 18 Jahren sind sie mit dem Orden Pour le Merité für Wissenschaften und Künste geehrt worden. Was bedeutet Ihnen die Mitgliedschaft in dem Orden?

Zinkernagel: Im Orden kommt man mit Wissenschaftlern zusammen, die man wenig kennt, aus ganz verschiedenen Gebieten wie Philosophie, Geschichte, Kunst, Musik und bereichert sich und die anderen durch seine Anwesenheit und Diskussionsfreude. Das ist wunderbar.

Sie haben bei der Aufnahme in den Orden gesagt, Ihr wichtigstes Hobby sei die Wissenschaft. Sehen Sie das heute auch so?

Das gilt auch heute noch.

Im Jahr 2008 – ein Jahr vor dem 65. Lebensjahr – sind Sie in den Ruhestand getreten. Vermissen sie jetzt, zehn Jahre später, das Labor?

Zinkernagel: Ja, ich vermisse das Labor immer. Ich hätte mit 65 sowieso aus dem Institut ausscheiden müssen, weil wir vom Staat finanziert werden. Die Mechanismen einer unabhängigen Finanzierung im 100-Prozent-Ausmaß existiert nicht.

Was vermuten Sie: Wer oder welches Forschungsgebiet wird 2018 mit dem Nobelpreis bedacht?

Zinkernagel: Keine Ahnung.

Vielleicht die Wissenschaftlerinnen Charpentier und Doudna für die Gentechnikmethode CRISPR?

Zinkernagel: 1987 wurde Werner Arber für seine Entdeckung der Restriktionsenzyme mit dem Medizinnobelpreis geehrt. Die sind eigentlich wie CRISPR ein antivirales bakterielles Abwehrsystem, eine Schere gegen Phagen. Ohne die Entdeckung der Abwehrmechanismen in Bakterien hätten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die CRISPR-Technik nicht entwickeln können.

Deshalb sollten die Forscher, die das Abwehrsystem entdeckt haben, den Nobelpreis erhalten. Die Nobelpreisstiftung versucht, Entdeckungen auszuzeichnen und nicht Verwertungen.

Lesen Sie dazu auch: Lindau: Nobelpreisträger zum Anfassen

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