IM GESPRÄCH

"Viele Stalking-Opfer suchen Hilfe und treffen auf Hilflosigkeit"

Von Sabine Schiner Veröffentlicht:

Viele Stalkingopfer leiden unter Depressionen, Angst, Antriebsarmut, Schlafstörungen, Alpträumen und Suizidgedanken. Das ist das Ergebnis einer Studie der Arbeitsgruppe Stalking am Institut für Forensische Psychologie der Technischen Universität (TU) Darmstadt. Die Opfer der zwanghaften Verfolgung werden oft allein gelassen. "Es gab bislang keine spezifischen Hilfsangebote", sagt die Sozialpädagogin Julia Bettermann aus Bremen im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Die angehende Kriminologin hat in Bremen die erste Beratungsstelle für Stalking-Opfer eingerichtet. Ab kommendem Montag ist dort eine Hotline geschaltet.

Der Ausdruck Stalking stammt aus der Jagdsprache und bedeutet wörtlich übersetzt "sich anpirschen" oder "anschleichen". Der Begriff steht seit einigen Jahren für obsessives Verfolgen und Belästigen. Nach einer US-Studie sind acht Prozent aller Frauen und zwei Prozent aller Männer in ihrem Leben schon einmal von einem Stalker verfolgt worden.

In Darmstadt werden solche Stalking-Fälle derzeit empirisch erfaßt. In einer Internet-Umfrage wurden die Daten von 510 Opfern von Stalking aufgenommen und ausgewertet. Zudem wurden auch Täter über Fragebögen und Telefoninterviews in die Studie miteinbezogen. Nach ersten Ergebnissen sind 80 Prozent der Stalker männlich und im Schnitt 38 Jahre alt. In jedem zweiten Fall handelt es sich bei dem Stalker um den Ex-Partner. Stalker verfolgen, observieren und beobachten ihre Opfer am Wohnort, am Arbeitsplatz, manche reisen ihnen in den Urlaub nach. Meist werden die Betroffenen per Telefon terrorisiert, aber auch mit SMS, E-Mails und Briefen bombardiert, oft lauern die Stalker vor der Haustür ihrer Opfer, manche nehmen über Dritte Kontakt auf. In einigen Fällen kommt es zu körperlicher Gewalt.

Professionelle Hilfe für die Opfer ist wichtig. "Man kann vieles falsch machen, etwa wenn man die Erfahrungen der Ratsuchenden nicht ernst nimmt", so Julia Bettermann. "Viele Betroffene suchen Hilfe und treffen auf Unverständnis und Hilflosigkeit im Umgang mit dem Phänomen."

Häufig verändern diese Erfahrungen das Leben der Betroffenen. "Sie werden übervorsichtig, schränken ihr soziales Leben ein. Dies kann bis zur völligen Isolation führen", so Isabel Wondrak von der Uni Darmstadt. Fragen wie "Wann und wo wird er als nächstes auftauchen? Was hat er sich jetzt wieder einfallen lassen?" führten zu einem Kontrollverlust und zu einem Gefühl der Hilflosigkeit. Depressionen können die Folge sein, aber auch Schlafstörungen und andere Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung.

Die neue Beratungsstelle in Bremen ist auf solche Fälle spezialisiert. Die Evangelische Friedensgemeinde in Bremen hat dafür einen Raum und ein Telefon zur Verfügung gestellt. Nach dem ersten Kontakt besteht die Möglichkeit, einen Termin für eine persönliche oder telefonische Beratung zu vereinbaren. "Ein kurzes Abchecken der Lage ist jederzeit telefonisch problemlos möglich, wir schätzen dann die Gefahrenlage ein und geben Tips", so Bettermann.

Dabei sei es vor allem wichtig, das Selbstvertrauen der Betroffenen zu stärken. Bettermann arbeitet mit mit Ärzten, Polizei, Anwälten, Psychologen und Sozialarbeitern zusammen. Prinzipiell gilt: Je früher die Intervention, desto besser. Denn je kürzer sich der Stalker auf eine bestimmte Person fixieren und je weniger er emotional in die Beziehung investieren kann, desto besser sind die Chancen, daß er mit der Verfolgung aufhört. Klare Regeln gibt es nicht. "Manchmal ist es richtig, zu einer Anzeige zu raten, ein andermal kann es dadurch zu einer Eskalation kommen", so Bettermann. Hilfreich sei es, Familie, Nachbarn und Kollegen zu informieren. "Oft reicht es auch schon, wenn man den Betroffenen zuhört und sie ernst nimmt."

Die Beratungsstelle für Stalking-Opfer (Telefon 0177/7037703) in Bremen ist montags von neun bis elf Uhr besetzt. Einen guten Einblick in den Stand der Stalking-Forschung in Deutschland bietet der neue Band "Stalking - Möglichkeiten und Grenzen der Intervention", Verlag für Polizeiwissenschaft Frankfurt/Main, ISBN 3-935979-36-3, 24,90 Euro. Weitere Infos gibt es unter www.stalkingforschung.de



Telefonterror in der Praxis

Ärzte sind häufig die ersten Ansprechpartner für Stalking-Opfer, oft werden sie jedoch auch selbst zum Ziel von Stalkern. "Ärzte gehören zu den Berufsgruppen mit dem höchsten Ansehen. sie bieten Unterstützung und Hilfe an - das zieht Stalker an", so der Psychologe Jens Hoffmann von der TU Darmstadt. Wenn ein Patient wiederholt in der Praxis anruft, ohne Termin auftaucht oder nach der Sprechstunde vor der Wohnung wartet, sollte der Arzt möglichst früh Grenzen ziehen und jeden Kontakt abbrechen. Ignorieren ist oft eine sinnvolle Strategie gegen Stalking. Zugleich sollte der Arzt jedoch auch Kollegen, das Praxisteam, die Familie und Freunde über den Verfolger aufklären. Das macht es dem Stalker schwer, an Informationen zu kommen. Damit es erst gar nicht soweit kommt, empfiehlt der Psychologe, keine privaten Infos und Adressen in der Praxis herumliegen zu lassen. (ine)

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