Kompromiss von Lahnstein

Waterloo für Vertragsärzte

Heute vor 25 Jahren begann mit dem Kompromiss von Lahnstein eine Großreform der GKV. Eine Neuauflage dieses großkoalitionären Deals ist unwahrscheinlich.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

Das Rheinstädtchen Lahnstein ist in der Gesundheitspolitik ein mythenumrankter Ort. Am 4. Oktober endete dort vor 25 Jahren eine viertägige Klausur, die das deutsche Gesundheitswesen dauerhaft verändert hat.

Der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) schmiedete gemeinsam mit dem SPD-Gesundheitsexperten Rudolf Dreßler den mittlerweile historisch gewordenen Kompromiss von Lahnstein. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) wurde die Gesetzliche Krankenversicherung an Haupt und Gliedern notoperiert.

"Harte Struktureingriffe zu Lasten der Ärzte", titelte die "Ärzte Zeitung" tags darauf. Tatsächlich bedeutete Lahnstein für die Vertragsärzte ein Waterloo. Die zwischen 1991 und 1992 geschlossenen Honorarverträge wurden schlicht einkassiert, für die Jahre 1993 bis 1995 galt ein Budgetdeckel.

Das Gleiche wurde für die Arzneiausgaben vereinbart – bei Budgetüberschreitungen sollten Pharma-Industrie und Ärzte mit jeweils bis zu 280 Millionen Mark kollektiv haften.

Ein "Scherbenhaufen" für Ärzte

Die bis dato nie gekannten Eingriffe in die Autonomie der Selbstverwaltung kommentierte der damalige Ehrenvorsitzende der KBV Hans Wolf Muschalik mit den Worten: "Wir stehen vor einem Scherbenhaufen."

SPD-Unterhändler Dreßler hingegen freute sich. "Diese Eckwerte schafft kein Verband mehr aus der Welt." Denn die Politik hatte aus der letzten Reform unter dem damaligen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) gelernt.

Dessen Gesundheitsreformgesetz von 1989 wurde von Lobbygruppen so geschreddert, dass von den erhofften Einsparungen kaum etwas übrig blieb. Um so größer wurde der Problemdruck, als mit dem Einheitsvertrag die Strukturen des westdeutschen Gesundheitswesens praktisch eins zu eins auf die neuen Länder übertragen wurden.

1992 dräute ein Defizit in der GKV von bis zu zehn Milliarden Mark. Seehofer und Dreßler zimmerten die Eckpunkte des GSG daher hinter verschlossenen Türen. Ärzte haben sich "strategisch ausmanövrieren lassen", konstatierte die "Ärzte Zeitung".

Denn als sich die Türen im Dorint-Hotel in Lahnstein wieder öffneten, war die Reform weitgehend eingetütet – Lobbygruppen blieb das Jammern. Am 9. Dezember 1992 gab der Bundestag grünes Licht für das GSG.

Beitragssätze bis 16,8 Prozent

Seine dauerhafte Wirkungsgeschichte bezieht der Lahnstein-Kompromiss aber insbesondere durch seine Organisations- und Strukturreformen. Die Beitragssätze der bundesweit damals noch rund 1200 Krankenkassen variierten extrem zwischen acht und 16,8 Prozent.

Dem Bundessozialgericht lag die Klage einer AOK gegen die hohen Beitragssatzunterschiede vor, die dem Bundesverfassungsgericht weitergereicht wurde. Sie galt unter Fachleuten als aussichtsreich – auch hier war der Druck auf die Politik also enorm. Die Antwort im GSG war ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen ab 1994 sowie die freie Kassenwahl für GKV-Versicherte ab 1996.

Bis dahin war die Regel: Jede Kassenart versichert nur "ihr" jeweiliges Versichertenklientel. Seehofer und Dreßler beseitigten dieses Überbleibsel der Bismarck-Zeit und schufen mit dem GSG die Startrampe für den Kassenwettbewerb heutiger Prägung.

"Lahnstein II" nötig?

25 Jahre später: Braucht das deutsche Gesundheitswesen ein "Lahnstein II"? Denn bis heute fokussiert sich der Wettbewerb der Kassen auf "gute" Versichertenrisiken. Im Mittelpunkt ihrer Handlungsautonomie steht die Vermeidung überdurchschnittlich hoher Zusatzbeiträge.

Ein "Qualitätswettbewerb" im Sinne der Suche nach innovativen Versorgungslösungen für Versicherte ist immer noch die Ausnahme, nicht die Regel. Die flächendeckenden Selektivverträge in Baden-Württemberg, die 2008 gestartet wurden, sind eine Insellösung geblieben.

Doch ein "Lahnstein II", mit dem Wettbewerb in der GKV neu gedacht werden könnte, liegt in weiter Ferne. Überparteilich müssten sich maßgebliche Gesundheitspolitiker dafür auf einen langfristigen Entwicklungspfad für die GKV verständigen.

Nötig wären dafür robuste Fachleute im Parlament, die sich untereinander vertrauen und Rückendeckung im Kanzleramt haben – sowie ein hoher Problemdruck, der alle Beteiligten vorwärtstreibt. Nichts von alle dem ist in Sicht, im Moment nicht einmal eine Regierung. Lahnstein vor 25 Jahren – das ist ein Mythos ohne Fortsetzung.

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