KBV-Projekt

Kassenärzte lassen ihre Rolle in der Nazi-Zeit aufarbeiten

Die Rolle der Kassenärzte im Nationalsozialismus wird nun erforscht. Erste Ergebnisse dürften Ende 2019 vorliegen. Die KBV will aber bereits im November sichtbar machen, dass sie es mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ernst meint.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Ärzte in der NS-Zeit: In diesen Bussen wurden Kranke abgeholt, um später getötet zu werden. Es gibt Zitate von Kindern aus der Gegend der Tötungsanstalt Hadamar: „Da kommt wieder die Mordkiste“.

Ärzte in der NS-Zeit: In diesen Bussen wurden Kranke abgeholt, um später getötet zu werden. Es gibt Zitate von Kindern aus der Gegend der Tötungsanstalt Hadamar: „Da kommt wieder die Mordkiste“.

© Archiv der Stiftung Liebenau

Vor etwas mehr als 80 Jahren, am 30. September 1938, unterwarf das Regime der Nationalsozialisten die Ärzteschaft endgültig ihrer mörderischen Ideologie. Per Reichsverordnung wurde allen Ärzten mit jüdischen Vorfahren die Approbation entzogen. Einige jüdische Ärzte durften als "Krankenbehandler" ausschließlich jüdische Patienten weiter versorgen. Viele dieser Ärzte mussten das Reich verlassen oder kamen später in Vernichtungslagern um. Vertreter der Vorgängerorganisation der KBV, der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD), betätigten sich dabei als willige Handlanger der Nazis.

"Die KVD und die regionalen KVen waren Teil der NS-Administration. Sie waren Täter", beschreibt KBV-Chef Dr. Andreas Gassen die damalige Rolle der verfassten Ärzteschaft. Wie sie die im gleichgeschalteten Führerstaat ausfüllten, soll nun ein Forschungsprojekt beleuchten, das die Vertreterversammlung 2017 beschlossen und beauftragt hat. Erste Ergebnisse werden im Dezember 2019 erwartet. "Die Selbstverwaltung hat damals versagt. Wir wollen wissen, warum?", sagte KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister am Freitag in Berlin. Erste Zeichen, dass sie die Aufarbeitung der Geschichte ernst nimmt, wird die KBV bereits in wenigen Tagen setzen.

Erinnerung an Herbert Lewin

Einer der "Krankenbehandler" war Herbert Lewin. Der jüdische Arzt ist Namensgeber eines kleinen Platzes nahe des Berliner Tiergartens. Dort haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Bundesärztekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Gemeinsame Bundesausschuss ihre Hauptstadtrepräsentanzen gebaut.

Lewin wurde von den Nazis gezwungen, in mehreren Konzentrationslagern als Häftlingsarzt zu arbeiten. Er überlebte den Krieg. Die Vergangenheit holte ihn aber bereits 1949 ein, als der damalige Offenbacher Oberbürgermeister Johannes Rebholz seine Wahl zum Direktor der Städtischen Frauenklinik in Offenbach widerrief. Die bizarre Begründung lautete, Lewin werde seine Arbeit mit dem Rachegefühl eines ehemaligen KZ-Insassen antreten. Er sei deshalb eine Gefahr für die ihm anvertrauten Patientinnen.

Am 8 November, einen Tag bevor sich der vom Naziregime befohlene als "Reichspogromnacht" bekanntgewordene Angriff auf Synagogen und weitere jüdische Einrichtungen zum 80. Mal jährt, wird nun auf dem Herbert Lewin-Platz eine Gedenktafel für die jüdischen Ärzte und alle Opfer des NS-Regimes in den Boden eingelassen. Der stellvertretende Parlamentspräsident Israels Yehiel Bar, der frisch gewählte Präsident des Weltärztebundes, Professor Leonid Eidelmann, Gesundheitsminister Jens Spahn und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Petra Pau haben sich angekündigt.

"Spät, aber vorbildlich!"

Das Engagement der Kassenärztlichen Bundesvereinigung komme in vielen Belangen zu spät, sagte Professor Samuel Salzmann am Freitag in Berlin. Salzmann wird in den kommenden beiden Jahren am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin die Geschichte der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands zwischen 1933 und 1945 untersuchen. "Am Ende ist das Engagement der KBV aber ein vorbildlicher Schritt", sagte Salzmann. Zeitzeugen wird Salzmann kaum noch auftreiben können. Bei den Kassenärzten war es nicht anders als in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik auch: Personelle Kontinuität in Organisationen und Behörden verhinderte Aufklärung.

Gegenstand des Forschungsprojektes ist daher auch, welche Funktionäre, die der Bestellung eines "Reichsärzteführers" zugestimmt, die Zwangssterilisationen gutgeheißen und Euthanasieprogramme vorbereitet hatten, auch nach dem Krieg noch standespolitisch tätig waren. Dafür bleiben Salzmann und seinem Team rund 30 Meter Akten der KVD. Darin finden sich Rundschreiben an die Mitglieder, Personalakten, Sitzungsprotokolle und Korrespondenzen mit Reichsministerien.

In den 70er Jahren habe das Bundesarchiv abgelehnt, die Aktensammlung aufzunehmen. Es sei ein Glück, dass wenigstens noch Teile vorhanden seien, sagen die heutigen Vorstände der KBV. Gefunden wurden die Papiere in den Kellern der Liegenschaften der KBV in Köln.

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