Interview

"Priorisierung lässt sich ethisch nicht vertreten"

Jürgen Graalmann (43) ist neuer Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes. In dieser Funktion vertritt er rund 18 Millionen Mitglieder. Für sie will er in seinem neuen Amt "hart streiten".

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Jürgen Graalmann

Aktuelle Position: Vorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Werdegang / Ausbildung: nach dem Abitur Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten bei der Barmer Ersatzkasse in Leer

Karriere: Studium an der Fachhochschule Köln, anschließend Wechsel in die Hauptverwaltung der Barmer nach Wuppertal, Leitung der Abteilung Gesundheitspolitik und Grundsatzfragen, 2006 Wechsel zum AOK-Bundesverband

Privates: verheiratet, zwei Töchter

Ärzte Zeitung: Wie fühlen Sie sich als vergleichsweise junger Mann in dieser verantwortungsvollen neuen Position?

Jürgen Graalmann: Ich bin gut beraten, hohen Respekt vor dieser Aufgabe zu haben. Aber ich übernehme die Verantwortung gerne. Nicht zuletzt deshalb, weil ich gerne entscheide und gestalte.

Ärzte Zeitung: AOK-Chef zu sein, ist auch ein politischer Job. Wie kommen Sie mit dem rauen Wind in dieser luftigen Höhe zurecht?

Graalmann: Es ist eine unglaubliche Herausforderung, in diesem Politikfeld mitgestalten zu können. Das will ich konstruktiv tun. Ich werde nicht nur meckern. Aber das darf man auch, wenn man klare Positionen vertritt. Für die Versicherten werde ich hart streiten.

Ärzte Zeitung: Außenstehende bekommen schnell den Eindruck, in der Gesundheitspolitik ist keiner dem anderen grün?

Graalmann: Die Gesundheitspolitik ist von Misstrauen geprägt. Das sind historisch gepflegte Mechanismen und Reflexe. Wir müssen daran arbeiten, dass sie sich nicht weiter einfahren. Sonst entwickelt sich nichts.

Ärzte Zeitung: Was sollte sich denn entwickeln? Haben Sie eine Agenda?

Graalmann: Ich sehe für mich drei zentrale Herausforderungen. Als strikter Verfechter der Solidarität trete ich für eine nachhaltige solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens ein. Der zweite Punkt ist der Wettbewerb. Ich kann im Augenblick nicht erkennen, wo der Vertragswettbewerb eine stärkere Rolle spielen kann. Drittens liegt mir am Herzen, wie Innovationen in die Versorgung gelangen können. Ich stehe für eine noch stringentere Nutzenbewertung von Arzneien, Verfahren, Heil- und Hilfsmitteln ein. Nur dann lässt sich das Gesundheitswesen aufrechterhalten.

Ärzte Zeitung: Werden Sie dafür das Gewicht des AOK-Bundesverbandes stärker in die Arbeit des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) einbringen?

Graalmann: Mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sowie dem Gemeinsamen Bundesausschuss haben wir exzellente Gremien für die Nutzenbewertung. Die könnten geschwächt werden, wenn der GBA wie geplant unter den Einfluss des Gesundheitsausschusses des Bundestages gerät und damit stärker politisiert wird. Diesen Plänen stehe ich ausgesprochen skeptisch gegenüber. Entscheidungen des GBA sollten auf der Grundlage von Empirie fallen, nicht der Demoskopie.

Ärzte Zeitung: Manche sagen auch, Entscheidungen sollten aufgrund von Priorisierungsüberlegungen fallen.

Graalmann: Das hängt eng mit der Nutzenbewertung zusammen. Wir haben noch ansehnliche Reserven im Gesundheitswesen. Deshalb lässt es sich ethisch nicht vertreten, Versorgung unter dem Gesichtspunkt der Priorisierung zu diskutieren.

Ärzte Zeitung: Das verschobene "Jahr der Pflege" beschäftigt den neuen AOK-Chef sicherlich auch.

Graalmann: Es muss bald zu einer Pflegereform kommen. Bei der Pflege handelt es sich um das Topthema des nächsten Jahrzehnts. Das kann man nicht aufschieben. Meiner Ansicht nach wird die Frage der Finanzierung zu hoch gewichtet. Sie ist nachrangig, wenn man bedenkt, dass wir etwas für pflegende Angehörige und die Ausweitung des Leistungsangebotes vor allem für Demenzkranke tun müssen.

Die Fragen stellte Anno Fricke

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