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Herausforderung Multimorbidität

„Seinlassen“ als spezifisch hausärztliche Leistung

Leitliniengerecht handeln, aber nicht überversorgen – wie das bei multimorbiden Patienten gelingt, erläutert DEGAM-Präsident Professor Martin Scherer.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:

Professor Martin Scherer ist Direktor des Instituts und der Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).

Professor Martin Scherer ist Direktor des Instituts und der Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).

© Tabea Marten

Herr Professor Scherer, der QISA-Band zum besseren Umgang mit Multimorbidität basiert auf dem Innovationsfonds-Projekt MULTIqual. Was war der Auslöser dafür, dieses Projekt zu starten?

Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Entsprechend ist ein großer Teil unserer Patienten multimorbide, muss also wegen drei oder mehr chronischen Erkrankungen behandelt werden.

Das kann auch bei leitliniengerechter Behandlung der einzelnen Erkrankungen große Risiken bergen, zu denen beispielsweise ungünstige Wechselwirkungen von Medikamenten gehören. Es kann auch passieren, dass sich die Therapieempfehlungen für verschiedene Erkrankungen widersprechen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Nehmen wir eine 75 Jahre alte Patientin mit fünf chronischen Erkrankungen, etwa COPD, Rheuma, Osteoporose, Bluthochdruck und Diabetes. Dann wären hier auch fünf Leitlinien relevant und wir haben dann eine Riesenliste für die Behandlung der Patientin.

Es ist also gut möglich, dass zu viele Menschen, zum Beispiel Ärzte verschiedener Fachrichtungen sowie verschiedene Therapeuten unterschiedliche Behandlungspläne aufstellen, die die Patientin letztendlich sogar gefährden können. Deshalb baut der QISA-Band Multimorbidität auf der generischen DEGAM-Leitlinie Multimorbidität auf.

Was ist hier die Besonderheit?

Diese Leitlinie stellt Patientenpräferenzen und eine gemeinsame Priorisierung von Behandlungszielen in den Vordergrund, stützt sich also nicht auf eine an einzelnen Leitlinien orientierte Vorgehensweise. Es geht hier vor allem um die Abwägung zwischen dem Patientenwunsch nach dem Erhalt der Autonomie und der Lebensqualität sowie um prognostische Erwägungen. Die klassischen Leitlinien für Einzeldiagnosen spielen eine eher untergeordnete Rolle.

Sie soll also vor einer kumulierten Anwendung monomorbider Leitlinien schützen und beschreibt unter anderem das ,Seinlassen` als eine spezifisch hausärztliche Leistung. Damit öffnen sich Ermessensspielräume und Entscheidungsfreiheiten in der Betreuung multimorbider Patientinnen und Patienten. Viele Aspekte können in die Therapieentscheidung einfließen. Das reicht vom Medikamentenplan, also unter anderem die PRISCUS-Liste, über nicht-medikamentöse Therapien bis zum Lebensstil.

Die Verbesserung der sozialen Alltagskompetenz wird in den Blick genommen, auch Heilmittelverordnungen oder eine Änderung des Lebensstils spielen eine Rolle. Auch in höherem Alter sind Menschen noch bereit, etwa aufs Rauchen oder auf Alkohol zu verzichten, ihre Ernährung umzustellen oder mehr Bewegung in ihren Alltag einzubauen.

Das hört sich nach großem Zeitaufwand für die hausärztliche Praxis an. Wie ist das machbar?

Tatsächlich müssen sich Hausärztinnen und Hausärzte für multimorbide Patienten besonders viel Zeit nehmen. Deshalb werden absehbar längere Konsultationen oft ans Ende der Sprechstunde gelegt. Oder die Ärzte machen Hausbesuche. Das hat den Vorteil, dass auch gleich die Bedingungen im Zuhause der Patienten gesehen und besprochen werden können.

Also: Wer bestellt die Medikamente, wer kümmert sich, wie kommen die Patienten im Alltag zurecht. Das müssen die Ärzte nicht alles selbst erledigen. Vieles kann auch an speziell ausgebildete Assistenzkräfte delegiert werden. Zum Beispiel bekommt die VERAH, die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis, im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung ein Auto gestellt, kann die Patienten aufsuchen und den Hausarzt entlasten.

Wie geht es nun weiter mit dem Projekt?

Die Referenzwerte aus der Anwendungsstudie des Multiqual-Projektes zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der derzeitigen Versorgung multimorbider Patienten. Deshalb ist eine internationale Folgestudie bereits geplant. Darin soll der Qualitätsindikatorensatz erstmals in größerem Umfang im Längsschnittvergleich eingesetzt und prospektiv evaluiert werden.

Die bisherigen Daten zeigen schon, an welchen Stellen Interventionen zur Verbesserung der Versorgungsqualität von multimorbiden Menschen ansetzen könnten. Neben einer besseren Honorierung des erhöhten Zeitaufwandes könnten eine erleichterte Datenerhebung, die Einbindung in Versorgungsmodelle sowie die Integration in die Praxis-Software dazu beitragen.

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