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Bürokratische Hürden, lange Genehmigungszeiten

Was klinische Studien in Deutschland bremst

Bürokratie, überzogenes Absicherungsdenken, Doppelarbeit in analogen und digitalen Welten und kontraproduktive Individualität hemmen die klinische Forschung in Deutschland. Forschende Ärzte und wissenschaftliche Fachgesellschaften sind sich in der kritischen Analyse der klinischen Forschung einig – und machen auch Vorschläge zur Verbesserung.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Die Corona-Pandemie hat die Schwächen Deutschlands bei Anmeldung und Durchführung klinischer Prüfungen offengelegt. Erkenntnisse über Wirksamkeit und Wirkdauer der Impfstoffe mussten aus dem Ausland importiert werden.

Die Corona-Pandemie hat die Schwächen Deutschlands bei Anmeldung und Durchführung klinischer Prüfungen offengelegt. Erkenntnisse über Wirksamkeit und Wirkdauer der Impfstoffe mussten aus dem Ausland importiert werden.

© sittithat tangwitthayaphum / Getty Images / iStock

Das Urteil fällt hart aus: „Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass Anmeldung und Durchführung klinischer Prüfungen in Deutschland hoch komplex ist, im akademische Bereich nicht nachhaltig finanziert und durch erhebliche Schwächen in Infrastruktur und Datenverarbeitung gehemmt wird.“ Professor Christof von Kalle, Chair des Berlin Institute for Health an der Charité und Mitglied im Gesundheitssachverständigenrat, macht dies am Beispiel von Studien zu COVID-19 fest: Weil sie in Deutschland nicht durchgeführt werden konnten, mussten Erkenntnisse über Wirksamkeit und Wirkdauer der Impfstoffe aus dem Ausland importiert werden.

Nicht nur Industrie und CROs klagen über bürokratische Hürden in Deutschland, auch forschende Ärzte sehen den Studienstandort Deutschland und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr, wie beim Frühjahrssymposion der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) deutlich wurde. So habe die Genehmigung einer CAR-T-Zell-Studie in Deutschland 203 Tage benötigt, in anderen europäischen Ländern zwischen 56 und 169 Tagen. Die meisten Länder schafften es binnen drei Monaten, so DGHO-Vorsitzender Professor Hermann Einsele.

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Er bestätigt die erheblichen Probleme bei der Probandenrekrutierung, was dazu führt, dass die Teilnehmerzahlen je Studienzentrum gering sind und Mindestzahlen mitunter nicht erreicht werden. Einsele plädiert für die Bildung einer fächerübergreifenden Koalition medizinischer Fachgesellschaften und Patientenvertretungen, um mehr Probanden für klinische Prüfungen zu gewinnen.

Überzogenes Sicherheitsdenken

Darin sieht auch Professor Barbara Eichhorst von der Uniklinik Köln eine Chance. Notwendig sei der Aufbau von Netzwerken für klinische Forschung, die koordiniert miteinander arbeiten. Das sei auch deshalb notwendig, weil die Fragestellungen in der Onkologie immer differenzierter und kleinteiliger werden. Je nach Entität sei auch die Einbindung niedergelassener Ärzte, die in gut organisierten großen onkologischen Praxen arbeiten, eine Option zur Probandengenerierung. So sind etwa in der Deutschen CLL-Studiengruppe mehr als die Hälfte der Studienzentren Praxen niedergelassener Onkologen.

Einsele wie auch von Kalle sehen als Ursache für wachsende Bürokratie ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken, das zu steigender Belastung von Studienärzten durch Sicherheitsberichte und Clearings führe. Wünschenswert, so Einsele, wäre eine Konzentration auf medizinisch relevante Aspekte.

Ein weiteres Beispiel für eine überzogene Verrechtlichung und das dahinterstehende Sicherheitsdenken sei die Einverständniserklärung der Probanden. Diese zu erläutern, ist urärztliche Aufgabe. Die freilich auch die Ärzte vor Herausforderungen stellt: Die Schriftstücke können bis zu 25 Seiten umfassen, sind von Juristen geschrieben und selbst von Ärzten schwer zu durchdringen, beklagt Professor Stephan Schmitz, der mit Kollegen in Köln in einer Gemeinschaftspraxis ein onkologisches Studienzentrum betreibt.

Großen Raum nimmt dabei auch die Aufklärung zu datenschutzrechtlichen Aspekten ein. Der Zweck der Aufklärung, eine informierte Zustimmung zu erzielen, werde damit ins Gegenteil verkehrt, so Schmitz. DGHO-Chef Einsele fordert darum harte Schnitte bei der Probandenaufklärung: möglichst nicht mehr als 1000 Wörter, mehr Visualisierung, zum Beispiel durch Erklärvideos.

Dabei ist gerade in der Onkologie die Einbindung niedergelassener Ärzte von zentraler Bedeutung für die Einbeziehung von Patienten in die klinische Forschung. Grundsätzlich sieht Schmitz dazu eine große Bereitschaft bei seinen Patienten, vorausgesetzt, der Arzt kann das Forschungsprojekt überzeugend begründen.

Die Patientenaufklärung ist von Juristen zur juristischen Absicherung geschrieben: selbst für Ärzte kaum verständlich. Ein informierter Konsens kann so nicht erreicht werden.

Professor Stephan Schmitz, Niedergelassener Onkologe und Studienarzt in Köln

Bürokratie: digital plus analog

Aus seiner Sicht wünschenswert wäre, bei der Konstruktion von Studiendesigns und -protokollen auch die Patientenperspektive einzubeziehen, etwa den Aufwand, den Probanden bei den von ihnen zu führenden Dokumentationen zur Messung der Lebensqualität betreiben müssen.

Bei der Digitalisierung von Dokumentationen und administrativen Abläufen hat Schmitz kontraproduktive Effekte bemerkt: Doppelarbeit in Papier und Elektronik, weil man der IT nicht vertraut. Das sei „ein gigantischer Aufwand für Studienzentren und ihre Study Nurses“.

Hinzu kommt, dass je nach Sponsor und Contract Research Organisation, die Prozeduren unterschiedlich ausgestaltet sind und die Anforderungen bei internationalen, in den USA initiierten Studien noch einmal höher sind. Die Onkologen Schmitz und Einsele, aber auch der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, der Kardiologe Professor Georg Ertl, wünschen sich unbedingt eine Standardisierung der administrativen Prozesse bei der Durchführung klinischer Prüfungen.

Spiegelbildlich zur Industrie klagen auch die forschenden Ärzte unisono über den Zeitverbrauch für den Vertragsabschluss zwischen Sponsor und Studienzentrum. Ursächlich dafür sei der ausgeprägte Individualismus der Rechtsabteilungen von Sponsoren und Studienzentren, bei denen Heerscharen von Juristen jeweils eigene Vorstellungen verhandeln. Auch hier könnte eine Harmonisierung große Effizienzgewinne bringen.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer sehr heterogenen Struktur der Studienzentren werde Deutschland weiter zurückfallen, prognostiziert Schmitz und plädiert für eine harmonisierte Studieninfrastruktur. Gute Ansätze für Netzwerkbildung, Expertenbündelung und Ressourcenteilung sieht von Kalle im nationalen Netzwerk Genomische Medizin und im MASTER-Programm.

Die ePA wäre eine große Chance

Auch die ePA sei ein wichtiger Schritt zum intersektoralen Austausch von Gesundheitsdaten mit der Aussicht auf Gewinnung von Patient Reported Outcomes. Aber die ePA steckt noch in den Windeln.

Dazu müsste der Datenschutz primär als Patientenschutz gedacht und vorhandene Daten genutzt werden, um Fehlbehandlung zu vermeiden und neue Therapieoptionen zu entwickeln, fordert von Kalle. Anonymisierte Daten müssten dabei auch der Industrieforschung zugänglich sein.

In welchem Umfang klinische Studien an deutschen Studienzentren – idealerweise sogar als Principal Investigator – durchgeführt werden, hängt auch von der Präsenz eines Fachs in der Unimedizin ab. Bei Diabetes, einer der bedeutendsten Volkskrankheiten, wird klinische Forschung immer schwieriger, weil das Fach nur noch an jeder vierten Uni vertreten ist, beklagt der Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft, Professor Baptist Gallwitz aus Tübingen.

Hoher Bedarf: Orphan-Forschung

Wie wichtig klinische Forschung am Standort Deutschland ist, zeigt sich auch auf anderem Gebiet: den seltenen Krankheiten, bei denen Behandlungsbedarf und -möglichkeiten weit auseinanderklaffen. „Die Beteiligung möglichst vieler Patienten an der Arzneimittelforschung, die Mitwirkung an der Definition des Unmet medical need, der Zugang der Betroffenen zu neuen Behandlungsmethoden und die Beteiligung an hochwertigen Studien und dabei auch Qualitätsstandards zu setzen, sind wichtige Gründe, die klinische Forschung in Deutschland stark zu machen“, sagt Mirjam Mann, die Geschäftsführerin der Allianz für chronische seltene Erkrankungen.

Sieben Punkte zur Verbesserung

  • Kooperation Unikliniken/ Unternehmen vereinfachen und beschleunigen: kurzfristig Musterverträge zwischen Sponsoren und Studienzentren erarbeiten; längerfristig Studienzentren besser vernetzen und Vorgehensweisen vereinheitlichen, Schnittstellen aufbauen, die die Kooperation vereinfachen.
  • Platzierung von Studien vereinfachen: kurzfristig Bewusstsein an Studienzentren schaffen, wie bedeutsam es ist, international wahrgenommen zu werden; mittel- bis längerfristig digitale Instrumente für die vereinfachte Ansprache von Studienzentren aufzubauen.
  • Chancen der digitalen Datennutzung verbessern: kurzfristig Zugang für Unternehmen zum Forschungsdatenzentrum schaffen; perspektivisch Nutzung von Daten der ePA auch für klinische Forschung ermöglichen; Studien näher zum Patienten bringen, etwa durch Studienvisiten von Study Nurses zu Hause.
  • Harmonisierung der Anforderungen der Ethik-Kommissionen: kurzfristig durchgängige Anerkennung der Mehrheitsbeschlüsse im Arbeitskreis Medizin-Ethikkommissionen sicherstellen; mittel- bis längerfristig klare Vereinheitlichung der Anforderungen der Genehmigung von Studien.
  • Administrative und regulatorische Hürden abbauen: kurzfristig Ausbau der Beratungsangebote der Bundesoberbehörden BfArM und PEI; Personalressourcen stärken; Genehmigungen nach dem Strahlenschutzgesetz in das Verfahren nach der EU-Verordnung 536/2014 integrieren; langfristig Harmonisierung der Datenschutzregeln in der medizinischen Forschung.
  • Bereitschaft der Bevölkerung für die Teilnahme an Studien stärken: kurzfristig Kampagne der Bundesregierung mit breiter Aufklärung über Nutzen und Bedeutung klinischer Studien; längerfristig Digitalisierung der Probanden-Rekrutierung.
  • Beteiligung an und Durchführung von klinischen Studien fördern: kurzfristig Wertschätzung und Incentivierung für klinische Forschungan den Krankenhäusern für Ärzte und Study Nurses verbessern; langfristig professionelle Infrastruktur sicherstellen und ausbauen.
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