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Coronavirus-Pandemie

Weniger Notfallbehandlungen: Risikopatienten im Auge behalten

Sorgt Corona dafür, dass sich Patienten im Notfall zu spät Hilfe holen? Der aktuelle Krankenhaus-Report des WIdO legt dies nahe. WIdO-Geschäftsführer und Klinikexperte Jürgen Klauber erklärt, warum jetzt gerade die Hausärzte gefragt sind.

Von Peter Willenborg Veröffentlicht:
Jürgen Klauber ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

Jürgen Klauber ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

© AOK-Bundesverband

Herr Klauber, mit den aktuellen Datenauswertungen kann das WIdO jetzt erstmals die Auswirkungen der zweiten Pandemiewelle auf die deutschen Krankenhäuser beleuchten. Welches Bild zeigt sich da?

Jürgen Klauber: Die Fallzahlen sinken insgesamt in der zweiten Pandemiewelle schwächer als in der ersten Pandemiewelle, trotz deutlich höherem Infektionsniveau. Das dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass die Regelungen zur Freihaltung von Betten in der zweiten Welle deutlich differenzierter erfolgten. Folgerichtig fallen auch die Rückgänge bei den weniger dringlichen, planbaren Operationen in der zweiten Welle nur noch etwa halb so groß aus wie im Frühjahr 2020. Insgesamt haben sich die Krankenhäuser im Sinne der politischen Vorgaben verhalten, deren Ziel eine Freihaltung von Krankenhausbetten war.

Schon im letzten Frühjahr ist darüber berichtet worden, dass die Zahl der Notfall-Behandlungen in der ersten Pandemiewelle stark eingebrochen ist. Wie sah das in der zweiten Welle aus?

Auch in der zweiten Welle von Oktober 2020 bis Januar 2021 ist erneut ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen – minus 13 Prozent bei den Herzinfarkt-Behandlungen und minus 11 Prozent bei den Schlaganfällen. Da stellt sich natürlich sofort die Frage, ob durch das Nichteintreffen oder spätere Eintreffen im Krankenhaus Folgeschäden und schwerere Krankheitsverläufe entstehen. Experten aus Herzkliniken haben ja bereits berichtet, dass vermehrt schwerere Fälle in den Kliniken angekommen sind. Also etwa Herzinfarkt-Patienten mit einer fortgeschrittenen Schädigung des Herzens. Offenbar zögern manche Patienten aus Sorge vor einer Infektion zu lange, den Rettungsdienst zu alarmieren – oder verzichten bei leichteren Beschwerden ganz darauf, das Gesundheitssystem in Anspruch zu nehmen.

Jürgen Klauber

  • aktuelle Position: Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO)
  • Werdegang: seit 1990 im WIdO, ab 1998 stellvertretende Institutsleitung, seit 2002 Geschäftsführer
  • Ausbildung: Studium der Mathematik und Sozialwissenschaften in Aachen und Bonn

Gibt es dafür auch Hinweise in den Daten?

Ja, eine Analyse auf Basis der AOK-Daten für den im Dezember 2020 erschienenen Qualitätsmonitor des WIdO hat gezeigt, dass in der ersten Pandemiewelle der Fallzahlrückgang bei den leichten Herzinfarkten stärker war als bei den schweren. Bei den Schlaganfällen haben wir eine signifikante Steigerung der 30-Tage-Sterblichkeit festgestellt. Dabei ist auch die absolute Zahl der Todesfälle unter den Schlaganfällen im Krankenhaus im Vorjahresvergleich angestiegen – trotz deutlich gesunkener Fallzahlen. Welche Folgeschäden durch möglicherweise nicht adäquat behandelte Herzinfarkte und Schlaganfälle entstehen, werden wir aber erst mittelfristig in Studien sehen können.

Was bedeuten die Ergebnisse für Hausärztinnen und Hausärzte?

Gerade in der Pandemie dürfte es besonders wichtig sein, seine Risikopatienten im Auge zu behalten. Und man kann nur immer wieder den Appell an die Patientinnen und Patienten wiederholen, bei Notfallsymptomen auch in der Pandemie nicht zu zögern und unmittelbar den Kontakt zum Arzt zu suchen oder gleich den Rettungsdienst zu alarmieren.

Sie haben auch Rückgänge bei den Krebs-Behandlungen festgestellt. Waren diese ähnlich groß wie bei den Notfällen?

Bei den Eingriffen wegen Brustkrebs-Neubildungen gab es in der ersten Welle deutliche Rückgänge von 10 Prozent, die in der zweiten Welle noch halb so groß ausfielen. Das dürfte vor allem damit zu tun haben, dass das Mammographie-Screening in der ersten Pandemiewelle temporär ausgesetzt worden ist. Die Zahl der Mammographien bei AOK-versicherten Frauen zur Früherkennung oder Diagnostik sank im Zeitraum März bis Mai um 49 Prozent. Ab dem Sommer hat sich die Lage dann wieder normalisiert.

Mehr Infos zum Krankenhaus-Report 2021: https://www.wido.de/

War das bei anderen KrebsIndikationen auch so?

Bei den Operationen des kolorektalen Karzinoms zeigt sich ein anderes Bild als bei den Brustkrebs-Op. Der Rückgang ist hier in der zweiten Welle mit 20 Prozent sogar größer als im Frühjahr 2020. Auch hier sehen wir in der ersten Pandemiewelle eine Verbindung zur deutlich reduzierten ambulanten Diagnostik. So sank in den drei Monaten die Zahl aller bei AOK-Versicherten durchgeführten Koloskopien um 26 Prozent. Angesichts des erneuten Einbruchs bei den Op in der zweiten Welle ist zu vermuten, dass die Darmkrebs-Diagnostik auch im Verlauf der zweiten Pandemiewelle wieder deutlich abgenommen hat. Inwieweit Patienten mit Beschwerden gezögert haben oder ob das Koloskopie-Angebot aufgrund von Kapazitätsengpässen reduziert wurde, können wir auf Basis der vorliegenden Daten nicht beantworten. Man muss den Menschen aber immer wieder klarmachen: Darmkrebs-Vorsorge rettet Leben, das ist durch zahlreiche Studien belegt.

Sie haben auch Rückgänge bei der stationären Behandlung von Erkrankungen verzeichnet, die aus Sicht von Experten in vielen Fällen auch von niedergelassenen Ärzten gut versorgt werden könnten. Wie sieht es da aus?

Bei den sogenannten ambulant-sensitiven Indikationen, bei denen oftmals auch eine qualifizierte ambulante Behandlung ausreichend wäre, ist eine bemerkenswerte Entwicklung zu sehen: Sowohl bei der Herzinsuffizienz als auch bei der COPD, die wir beispielhaft ausgewertet haben, zeigen sich seit dem Beginn der Pandemie durchgängig sehr starke Fallzahlrückgänge, die jeweils mit der Intensität der beiden Pandemiewellen zugenommen haben. Wir können aus den Daten nicht ablesen, ob diese Patienten, die nicht ins Krankenhaus gekommen sind, bei Bedarf stattdessen ausreichend ambulant versorgt worden sind.

Der durchgängige Rückgang in der Pandemie könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass es hier eine stationäre Überversorgung gibt. Auch internationale Vergleiche legen das nahe. Es wird sich zeigen, ob die Corona-Pandemie in diesem Bereich der Versorgung eventuell einen dauerhaften Strukturwandel befördert.

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