Finger bürsten stundenlang-Zwangsstörungen beginnen oft im Kindesalter

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Etwa 145 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland haben schwere Zwangsstörungen. Wird rechtzeitig behandelt, ist die Prognose gut.

Von Uwe Groenewold

Zu viel Händewaschen? Vielleicht liegt eine Zwangsstörung vor.

Zu viel Händewaschen? Vielleicht liegt eine Zwangsstörung vor.

© Foto: manolitowww.fotolia.de

Ein neunjähriges Mädchen, das permanent die Umgebung absucht und kontrolliert, ob es auch kein Haar verloren hat; ein elfjähriger Junge, der sich aus Angst vor Verschmutzung immer und immer wieder die Hände wäscht; ein Zwölftklässler, der nicht mehr zur Schule gehen kann, weil er befürchtet, zu Hause wird etwas gegen seinen Willen in den Müll geworfen - das sind drei Beispiele von inneren Zwängen, die Kinder und Jugendliche zu Gefangenen ihrer selbst machen.

Je früher der Beginn, um so schwerer sind die Störungen

Putzen, zählen, sammeln, kontrollieren ohne Unterlass - etwa 145 000 Mädchen und Jungen in Deutschland haben Zwangsstörungen, schätzt Professor Susanne Walitza aus Zürich. Die Betroffenen wissen, dass ihr Tun oder Denken Unsinn ist, können sich dem quälenden Drang jedoch nicht entziehen, sagte Walitza beim Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Hamburg. Die Zwangsstörungen bei Kindern beginnen meist zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr, mitunter jedoch auch deutlich früher. "Je früher die Erkrankung auftritt, desto länger hält sie an und desto schneller schreitet sie voran", sagte die Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Die zwanghaften Situationen zehren an Kraft und Nerven: Kinder und Jugendliche, die sich stundenlang die Finger bürsten oder immer wieder Bücher im Regal zählen, sind verzweifelt, erschöpft und oft depressiv. Auf Dauer beeinträchtigen Zwangsstörungen schulische und berufliche Leistungen sowie den Kontakt zu Gleichaltrigen und Angehörigen.

Wie sich solche Zwänge entwickeln, ist unklar. Mit bildgebenden Verfahren lassen sich neurobiologische Veränderungen im Gehirn nachweisen. Bei den Betroffenen kommt es offensichtlich zu einer gestörten Impulsübertragung in den Hirnarealen, die für die exakte Ausführung einzelner Handlungen zuständig sind. Dazu gehören Teile des Frontalhirns, in denen künftige Handlungen geplant und das eigene Sozialverhalten strukturiert werden, die Basalganglien, in dem diese Planungen gefiltert werden, sowie das limbische System, das die Emotionen reguliert. Auch die Amygdala, der mandelförmige Kern innerhalb des limbischen Systems, ist in dieses System eingebunden. Die Amygdala gilt bekanntlich als Alarmzentrum des Gehirns. Von ihr gehen unmittelbare Reaktionen wie Angst, Schweißausbrüche und Herzrasen aus - Emotionen, die bei Zwangspatienten gehäuft auftreten. Ein Mangel des Neurotransmitters Serotonin führt wahrscheinlich zu einer übermäßigen Aktivierung der betroffenen Hirnareale.

Als alleinige Erklärung reichen diese neurobiologischen Veränderungen nach Auffassung von Walitza nicht aus. Außer Umwelteinflüssen sind offenbar auch genetische Faktoren von Bedeutung - Zwangsstörungen treten familiär gehäuft auf und Mütter erkrankter Kinder sind häufiger von Angststörungen betroffen.

Behandelt werden längst nicht alle Patienten: Die meisten Betroffenen haben große Scheu, sich und anderen das Leid einzugestehen und versuchen, ihre Symptome so lange wie möglich zu verheimlichen. So vergehen mitunter bis zu sieben Jahre, bis sich Patienten und Familie einem Arzt anvertrauen. Meist kann aber den Betroffenen geholfen werden. Klinischen Studien zufolge profitieren 50 bis 85 Prozent der Patienten von einer Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und vorübergehender medikamentöser Behandlung. Auch die Familie wird in die Behandlung einbezogen, denn häufig werden die Zwangssymptome der Kinder von den Verhaltensweisen der Familienmitglieder beeinflusst.

Verhaltenstherapie durch Konfrontation mit Zwängen

Die Verhaltenstherapie beinhaltet eine schrittweise Konfrontation mit Zwangshandlungen und -gedanken. Wer sich aus Angst vor verschmutzten Türklinken permanent die Hände wäscht, setzt sich in der Therapie bewusst belastenden Situationen aus, bis Spannungen und Angstgefühle auch ohne Händewaschen weniger werden. Bei der medikamentösen Therapie werden bevorzugt SSRIs eingesetzt; als zweite Wahl gilt das trizyklische Antidepressivum Clomipramin. 18 Studien mit über 1 000 Patienten haben eine signifikante Überlegenheit der medikamentösen Therapie gegenüber Placebo gezeigt, so Walitza. Nach Abklingen der Symptome sollten SSRIs etwa sechs bis zwölf Monate weiter verabreicht werden.

Fünf Jahre nach Diagnosestellung hat sich der Schweregrad der Erkrankung signifikant reduziert, wie die Züricher Expertin erläuterte. Eigenen Untersuchungen zufolge seien aber dennoch fast 50 Prozent der Betroffenen weiterhin erkrankt, 20 Prozent weisen subklinische Symptome auf.

Weitere Informationen gibt es auch bei der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. unter www.zwaenge.de

Wasch- und Putzzwänge sind am häufigsten

Etwa zwei Prozent der Kinder und Jugendlichen haben Zwangsstörungen. Mädchen und Jungen sind gleichermaßen betroffen. Am häufigsten sind Wasch- und Putzzwänge, vor allem Hände waschen und Zähne putzen, gefolgt von Kontroll-, Wiederholungs-, Ordnungs- und Zählzwängen. Zusätzlich haben viele ein gestörtes Sozialverhalten, Ängste und Unsicherheiten. Bei Jungen werden häufig motorische und vokale Tics beobachtet, Mädchen oft zeitgleich Essstörungen. Am häufigsten treten Zwangsstörungen jedoch zusammen mit ADHS auf: Jedes fünfte Kind mit ADHS ist davon betroffen. (ugr)

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