1992: Gewitterwolken über den Ärzten

Das Gesundheitswesen hat sich von der Wirtschaft abgekoppelt, die Krankenkassen rasen ins zweistellige Milliarden-Defizit. Noch ahnen die Ärzte und ihre Funktionäre nicht, mit welcher Härte der neue Gesundheitsminister Horst Seehofer eingreifen wird.

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Bonn, 27. April 1992. Am vorangegangenen Wochenende ist der Leiter der Grundsatzabteilung im Bundesgesundheitsministerium, Reinhard Hoppe, wegen Spionageverdachts verhaftet worden.

Am 27. April reicht Bundesgesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt (CSU) ihr Rücktrittsgesuch "aus gesundheitlichen Gründen" nach nur einem Jahr Amtsdauer ein.

Bundeskanzler Helmut Kohl ernennt den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Horst Seehofer, 42, zum neuen Bundesgesundheitsminister.

Die Hinterlassenschaft seiner Vorgängerin besteht aus einem Organisationschaos im Ministerium und einer aus dem Ruder laufenden Kostenentwicklung in allen GKV-Leistungsbereichen.

Hatten die gesetzlichen Kassen nach der Blümschen Gesundheitsreform 1989 noch Überschüsse von 9,8 und 6,2 Milliarden DM erwirtschaftet, so stiegen die Ausgaben 1991 doppelt so stark wie die Einnahmen. Ein Defizit von fünf Milliarden war die Folge.

Im Lauf des Jahres 1992 stehen - nach einem Wiedervereinigungs-bedingten Boom die Zeichen in der Wirtschaft auf Rezession.

Im Spätsommer 1992 stellt sich heraus, dass die Kassen im ersten Halbjahr bei einem Ausgabenanstieg von 10,2 Prozent ein Defizit von zehn Milliarden DM im Westen gemacht haben. Auch in den neuen Ländern wird erstmals ein Minus verbucht.

KBV-Chef Hess empfiehlt Bremsklötze

Bereits wenige Tage nach seinem Amtsantritt macht Seehofer deutlich, dass auf Patienten, Ärzte und Pharma-Industrie "Lasten zukommen werden". Begrenzung der Kassenarztzahl, Richtgrößen und Wirtschaftlichkeitsprüfung per Gesetz und ein individuelles Bonus-Malus-System für ärztliche Verordnungen.

Seehofer verpflichtet die Koalitions-Gesundheitspolitiker zur Schweigsamkeit. Er selbst nimmt am Ärztetag nicht teil. Priorität hat die Arbeit an einem K-Gesetz.

Den Ärztetag nutzt Präsident Dr. Karsten Vilmar, "eine grundlegende Wende in der Gesundheitspolitik" zu fordern. Staatlicher Dirigismus und Planwirtschaft müssten durch intelligente Anreize ersetzt werden.

Steuerungsfunktion erwartet sich Vilmar von Eigenbeteiligungen bei Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln.

Unterdessen versagen die Steuerungskräfte der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen. So lehnt der KBV-Länderausschuss am 10. Mai das mit den Ersatzkassen am Jahresanfang vereinbarte Modell der Mengenbegrenzung bei starken Überschreitungen der Leistungsanforderungen ab.

Ursache: technische Probleme und Furcht der KV-Funktionäre vor einer verärgerten Basis, die sich im Herbst bei den anstehenden KV-Wahlen rächen könnte.

Weitsichtig mahnt der damalige KBV-Hauptgeschäftsführer Dr. Rainer Hess: Wenn wir den Bremsklotz wegnehmen, dann läuft die Honorarpolitik vor die Wand. Dann haben wir am 1. Januar 1993 eine gesetzliche Reglung, die uns jeden Spielraum nimmt. (HL)

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