Blindenführhunde bleiben trotz allen Trainings auch nur Hunde

HAMBURG (dpa). Ben kann das rote und das grüne Ampelmännchen nicht voneinander unterscheiden. Er weiß zwar, was eine Ampel ist. Ob sein Frauchen aber über die Straße gehen darf oder nicht, kann er ihr nicht mitteilen. Nur auf Befehl führt er sie hinüber und bleibt vor dem Bordstein stehen, damit sie nicht stolpert und sich orientieren kann.

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Ben ist einer von rund 3000 Blindenführhunden in Deutschland und steht Marion Koch (51) aus Hoisdorf in Schleswig-Holstein zur Seite. Vor acht Jahren ist die Dressurreiterin erblindet und verlässt sich seither auf die Fähigkeiten von Hunden. Doch das Zusammenspiel von Mensch und Tier will geübt sein.

Ben und Marion Koch üben seit einem Jahr - Bens Vorgänger Bernie hatte Alterserscheinungen und war reif für den Ruhestand. Mit der Disziplin hapert es bei dem zwei Jahre alten Labrador Retriever jedoch noch ein wenig. Ob Schokolade auf dem Gehweg, ein weggeworfener Döner im Gebüsch oder Essensreste im Mülleimer - der Rüde liebt alles, was irgendwie fressbar ist.

Manchmal sei er ein "echter Schnappspecht", erzählt die zierliche Frau mit der dunklen Sonnenbrille. Überhaupt sei Ben ganz anders als Bernie: In Situationen, in denen Bernie Ruhe bewahrte und höchst konzentriert bei der Sache war, gibt Ben schon einmal seinen Instinkten nach. Marion Koch nimmt's gelassen: "Er ist eben auch nur ein Hund", sagt sie und tätschelt liebevoll Bens Kopf. "Ich wundere mich immer wieder, wie viel die Menschen einem Blindenführhund zutrauen."

Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit und schon steckt der lebhafte Hund seinen Kopf in den nächsten Mülleimer. An den Gerüchen, die ihm zwischen Zeitungspapier, Taschentüchern und Plastiktüten in die Nase steigen, kommt er einfach nicht vorbei. Da nützt auch die beste Ausbildung und die beste Führung nichts.

"Es ist ein Irrtum, dass sich jeder Blindenführhund so vorbildlich benimmt wie ‚Lassie‘", sagt Marion Koch. Denn im Gegensatz zu dem makellosen Verhalten des berühmten Fernsehhundes mache ein Blindenführhund nicht immer alles richtig. Energisch zieht sie an dem weißen Führgeschirr, ruft ein einziges Mal laut "Pfui" und setzt sich durch: Mit einem missmutigen Grunzen taucht Ben wieder aus dem Mülleimer auf und schaut scheinbar reuevoll zu Marion Koch hinauf. Sie fasst ihm kurzerhand ins Maul, um zu fühlen, ob er in seiner Gier etwas aufgeschnappt hat.

Die beiden haben zwei Wochen lang trainiert, sich gemeinsam durch die Stadt zu bewegen. Danach stellten sie sich der sogenannten Gespannprüfung, bei der sie in ganz alltäglichen Situationen zeigen mussten, dass sie als Team funktionieren. Die Prüfung meisterten Ben und sein Frauchen zwar mit Bravour, doch völlig reibungslos verläuft das Zusammenspiel auch Monate später noch nicht: So soll der junge Labrador jetzt eigentlich die Treppe im Restaurant anzeigen, doch steuert er wie eingeübt eifrig den Ausgang an. Laut und streng ruft Marion Koch mehrmals "Such Treppe", bis Ben sie schließlich zu den Stufen führt.

Aller Anfang ist schwer, das weiß auch Ira Rheker von der Hamburger Blindenführhundschule "Dogs University": "Es dauert mindestens ein Dreivierteljahr, bis ein Gespann reibungslos zusammen läuft." Bis man vom sprichwörtlichen blinden Vertrauen sprechen kann, macht das Tier immer wieder Fehler. Vor allem, wenn es sich in einer Gegend noch nicht so gut auskennt. "Dann kommt es schon einmal vor, dass der Hund stehen bleibt, langsamer wird oder vielleicht sogar in die falsche Richtung läuft", erklärt Rheker. Mit der Zeit werde die Verständigung zwischen Mensch und Tier aber immer besser.

Neun Monate lang wurde Ben in der Hundeschule von Thomas Becher im thüringischen Arnstadt ausgebildet. Immer wieder übte sein Trainer alle möglichen Alltagssituationen mit ihm ein. So bekam er beigebracht, vor Treppen und Bordsteinkanten anzuhalten. "Gerade hier ist es besonders wichtig, dass Ben sich auf mich konzentriert und sich von nichts und niemandem ablenken lässt, sonst wird es lebensgefährlich", betont Marion Koch.

Außerdem kann Ben sie auf Aufzüge, Ampeln und Türen aufmerksam machen, sie sicher um Baustellen herumführen und vor Rolltreppen und Abgründen zurückweichen. Er hat gelernt, wie er mit einem Blinden an seiner Seite in Busse und Bahnen einsteigt, in Menschenansammlungen die Nerven behält - und dass er andere Hunde ignorieren muss. Wenn er nun noch lernt, dass es wichtigere Dinge als seinen Appetit gibt - dann seien sie ein unschlagbares Team.

Beim Kommando "Such Ampel" wedelt der junge Hund freudig mit dem Schwanz, schaut sich einmal suchend um und steuert direkt auf die nächste Ampel zu, Marion Koch im Schlepptau. Dann bleibt er stehen, springt am Ampelpfeiler hoch und gibt seinem Frauchen zu verstehen, wo sie den Drücker suchen muss. Die 51-Jährige greift erst in die Luft, wird mit Hilfe des Hundes aber schnell fündig. Mit gespitzten Ohren schaut Ben sie erwartungsvoll an. Marion Koch zieht aus ihrer Manteltasche ein Leckerli heraus und hält es dort hin, wo sie Bens Schnauze vermutet. "Fein gemacht", sagt sie und streichelt seinen Kopf. Dann konzentriert sie sich auf die Geräusche in ihrer Umgebung. Als das akustische Grünsignal einsetzt, befiehlt sie "rüber". Auf der anderen Straßenseite wartet er auf sein nächstes Lob.

Sein Image als niedlicher Familienhund wird dem Labrador oft zum Verhängnis. Ob an der Ampel, in der Schlange beim Bäcker oder im Restaurant: Ständig greifen fremde Hände nach ihm, tätscheln seinen Kopf, fahren über sein weiches Fell. Dass sie ihn damit massiv von seiner Arbeit ablenken, bedenken die Menschen nicht. Die meisten packen ungefragt zu.

"Diese Leute wissen gar nicht, wie sie damit das Zusammenspiel von Mensch und Tier zerstören", sagt Marion Koch. Wenn Ben sich nicht mehr auf seine Aufgabe konzentriert, kann er die 51-Jährige im schlimmsten Fall in die Irre führen. Das erklärt sie auch den Hundeliebhabern auf der Straße. "Es gibt nur wenige höfliche Leute, die mitdenken und vorher fragen, ob sie ihn streicheln dürfen."

Viele bemitleiden den "armen Arbeitshund" und glauben, er führe kein hundegerechtes Leben. Dabei gebe es kaum Hunde, die mehr bewegt, geliebt und gebraucht werden als Blindenführhunde, erklärt Marion Koch. Ihr tut dieses Missverständnis sehr weh. Viermal am Tag nimmt die 51-Jährige das weiße Führgeschirr ab und Ben tollt wie ein ganz normaler Hund herum, tobt über Wiesen, wälzt sich im Dreck und badet in stinkenden Tümpeln. Doch stets bleibt er in der Nähe von Marion Koch. Niemals läuft er soweit weg, dass sie das goldene Glöckchen an seinem Halsband nicht mehr hören kann.

Bernie und Ben haben wieder Freude in Marion Kochs Leben gebracht. Als die begeisterte Reiterin durch einen Tritt ihres Pferdes das Augenlicht verlor, fühlte sie sich in der völligen Dunkelheit ängstlich und hilflos. Jeder noch so selbstverständliche Handgriff musste neu erlernt werden. Durch die Hunde gewann sie ein Stück Normalität, Freiheit und Sicherheit zurück. Mit Ben kommt sie überall hin, ohne auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Bei entsprechender Übung findet er sogar die Apotheke oder den Schlachter um die Ecke wieder, sagt sie und scherzt: "Wo der Schlachter ist, würde er sich wahrscheinlich am schnellsten merken."

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