Der neue Arzt

Seine Kollegen haben nie viel von ihm gehalten, ihn noch nicht einmal als „echten“ Kollegen angesehen. Vielmehr haben sie ihre Patienten vor ihm gewarnt, man solle ihm nicht trauen – dabei ist er doch (fast) allwissend! Vielleicht hatten die Niedergelassenen nur Angst vor seinem Einfluss und davor, mehr und mehr Patienten an ihn zu verlieren. Denn er ging mit der Zeit, war der Inbegriff der digitalen Medizin, 24/7 für seine Patienten da und hatte auf jede Frage seitenweise Antworten. Das gefiel seinen Patienten so gut, dass sie sich sogar mit den vermeintlich peinlichsten Fragen an ihn wendeten: Wie sieht Fußpilz aus? Was tun gegen Blähungen? Und habe ich eigentlich Mundgeruch?

Aber heute plagt ihn, den großen Dr. Google, die Angst, nicht mehr zu genügen und letztlich substituiert zu werden. Er ist zwar seit mehr als 25 Jahren im Geschäft und hat sich mittlerweile einen Namen gemacht, den Menschen weltweit kennen. Trotzdem rufen ihn heute immer weniger Patienten auf. Sie tippen stattdessen eine andere URL ins Suchfeld ein.

ChatGPT heißt der neue Arzt im Dorf. Er ist jung, modern und überzeugt die Patienten vor allem mit seiner Eloquenz und seinem Witz. Dabei wirkt er fast, wie ihresgleichen, und das scheint den Menschen zu gefallen. Eine einfache Maschine, wie Dr. Google, wollen sie nicht mehr – Menschlichkeit steht hoch im Kurs. Das kann Dr. Google ihnen nicht bieten, aber vielleicht ja – neben ChatGPT – seine rund 416.000 Kolleginnen und Kollegen.