"Die Kinder sollen ihren Rollstuhl nicht als Hindernis begreifen"

Ein eigenes Zimmer, attraktive Hobbys und ein selbstständiges Leben: Für Kinder mit Behinderung ist das oft eine Seltenheit. In der Jugendklinik in Datteln aber sieht das ganz anders aus.

Anne-Christin GrögerVon Anne-Christin Gröger Veröffentlicht:
Ramesch in seinem Reich: Das Beatmungsgerät ist am Rollstuhl des leidenschaftlichen Sammlers immer dabei.

Ramesch in seinem Reich: Das Beatmungsgerät ist am Rollstuhl des leidenschaftlichen Sammlers immer dabei.

© André-Streitenberger-Haus

KÖLN. Der zehnjährige Ramesch ist ein leidenschaftlicher Sammler. Auf einem Regal in seinem Zimmer reihen sich Feuerwehrautos und Polizeiwagen nebeneinander. In einem anderen sind CDs mit Detektiv-Geschichten und Bücher gestapelt. Seine neueste Errungenschaft ist ein kleines Aquarium. Das Wasser muss noch etwas altern, bevor die Garnelen eingesetzt werden können, die er sich wünscht.

Ramesch ist kein normaler kleiner Junge mit einer Liebe zu Fischen und Abenteuerbüchern. Er leidet an zentronukleärer Myopathie, deshalb kann er nicht selbstständig atmen. Das Kind sitzt in einem Elektrorollstuhl. Sein Leben hängt von Kabeln und Schläuchen ab. Ramesch gehört zu einer kleinen Gruppe von etwa 1000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die künstlich beatmet werden müssen, weil sie querschnittsgelähmt sind oder an einer Muskelerkrankung leiden. Er lebt mit sechs Mitbewohnern, die zwischen zwei und 20 Jahren alt sind, im André-Streitenberger-Haus, einem eigenen Gebäude für dauerbeatmete Kinder auf dem Gelände der Caritas Kinder- und Jugendklinik in Datteln.

Rameschs Mitbewohnerin, die 20-jährige Sara, kann zwar aufgrund ihrer geistigen Behinderung nicht lesen, aber sie hilft gerne der Betreuerin Claudia Göke beim Sichten der Katheter, Einmalhandschuhe und Desinfektionsmittel, berichtet Harald Westbeld, Sprecher des Caritas-Verbandes Münster.

Die Kinder sollen hier so selbstständig und normal wie technisch und pflegerisch möglich leben. Jeder hat sein eigenes, individuell gestaltetes Zimmer. Pfleger und Betreuer betreten es nur nach Klopfen und Aufforderung. Trotz der notwendigen Pflege soll die Privatsphäre der Kinder möglichst weit reichen. Für den Hausleiter Michael Schwerdt ist das besonders wichtig. Er weiß, dass viele dauerbeatmete Kinder und Jugendliche jahrelang auf Intensiv- und anderen Krankenhausstationen leben, denn häufig kommt zu der Querschnittslähmung eine andere körperliche oder geistige Behinderung dazu. "Viele Eltern hätten ihr Kind zwar gerne zuhause", sagt Schwerdt. "Doch oft trauen sie es sich nicht zu, es selbst zu pflegen."

Das André-Streitenberger-Haus ist 2002 als Modell gestartet. Bisher gibt es in Deutschland nur wenige ähnliche Projekte, in München, Siegen und Wiesbaden. Die Einrichtung ist nach ihrem Ideengeber benannt. André Streitenberger hat bis zu seinem Tod 2001 in der Kinder- und Jugendklinik Datteln gelebt. Dort lernte ihn Michael Schwerdt im Rahmen seiner Diplomarbeit kennen und hat ihn über 13 Jahre lang betreut. Andrés Leben in klinischer Atmosphäre hat ihn nicht losgelassen. "Das Leben auf der Intensivstation wird bei allem Bemühen im medizinischen Alltag den Kindern nicht gerecht", sagt er. Von André ging die Motivation aus, nach neuen Wohnformen für langzeitbeatmete Kinder zu suchen.

Als ein Artikel über André im "Stern" erschien, sagte ein Mitarbeiter im Bundesgesundheitsministerium spontan ein Drittel der Bausumme für den Plan zu. Das Land Nordrhein-Westfalen, die Aktion Mensch, die Stiftung Wohlfahrtspflege und weitere Geldgeber beteiligten sich. André war bei den Planungen dabei. "Sein Rollstuhl war das Maß für die Zimmer", sagt Schwerdt. Die Räume wurden großzügig angelegt. "Die Kinder sollen sich nicht in ihren Rollstühlen als Hindernis begreifen."

Ramesch und seine sechs Mitbewohner besuchen vormittags den Kindergarten oder die Schule, die direkt nebenan liegen und zur Klinik gehören. Das fordert die Kreativität der Lehrerin Christine Schulenburg und ihren Kollegen heraus. Sie lässt Ramesch an sein schräggestelltes Schreibpult rollen, steckt Kissen unter seine Arme und klemmt Buch und Heft mit Magneten fest. Sie müssen in Augenhöhe sein, denn wenn Rameschs Kopf herunterfällt, kann er den Kopf wegen seiner Muskelschwäche nicht wieder alleine heben, berichtet Westbeld.

Diese intensive Betreuung spiegelt sich im Pflegesatz wider. Nur ausgebildete Kinderkrankenschwestern und Heilpädagogen sind in der Pflege zugelassen. Unterstützung kommt von Zivis und Hospitanten. Ungelöst ist die Frage, wo die Jugendlichen hin sollen, wenn sie nicht mehr zur Schule gehen. Für den 20-jährigen Robin hat Schwerdt einen Platz in der Wohngruppe gefunden. Doch generell ist das schwierig, denn mit ihren besonderen Bedürfnissen passen nicht alle Bewohner dorthin. Für jeden Bewohner müssen Schwerdt und seine Mitarbeiter eine individuelle Lösung suchen.

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