Inklusiver Freiwilligendienst

Im Rollstuhl als Helferin nach Ghana

Hunderte junge Menschen beginnen in diesen Wochen einen Freiwilligendienst im Ausland. Dass man auch mit einer Behinderung in den Einsatz gehen kann, macht Lily Vogel vor.

Von Birgit Reichert Veröffentlicht:
Lily Vogel mit Koffer: Ihr Rollstuhl hindert sie nicht daran für einen Freiwilligendienst zu verreisen.

Lily Vogel mit Koffer: Ihr Rollstuhl hindert sie nicht daran für einen Freiwilligendienst zu verreisen.

© Harald Tittel / dpa

TRIER. Lily Vogel hat seit kurzem ihr Abi in der Tasche und will raus in die Welt. In wenigen Tagen startet sie nach Ghana, um dort einen einjährigen Freiwilligendienst zu machen. Für die 19-Jährige aus Trier ist es eine ganz besondere Herausforderung: Sie sitzt von Kindheit an im Rollstuhl. „Ich wollte ins Ausland gehen, seit ich elf Jahre alt war“, sagt die junge Frau.

Lange Zeit habe sie nicht geglaubt, dass das gehe. Bis sie auf den Verein Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit (Bezev) in Essen gestoßen sei, der über den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „Weltwärts“ Menschen mit und ohne Behinderung zu Einsätzen rund um den Globus schickt.

„Es ist für mich eine Chance – wie für jeden anderen auch“, sagt Vogel. Sie freue sich auf ihren Einsatz und ja, sie sei natürlich auch schon aufgeregt. Ende August geht es los – in die gut 100.000-Einwohner-Stadt Ho.

Dort werde sie bei der Selbsthilfeorganisation Voice Ghana, die sich für Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung einsetzt, mitarbeiten. Morgens als Assistentin in einer Förderschule. Nachmittags im Büro, um Veranstaltungen zu organisieren, oder zu Diskussionen und Kampagnen über Land in Dörfer zu fahren.

Seminare zur Vorbereitung

Wenn Vogel mit dem Flieger gen Afrika startet, ist keine Extra-Begleitperson für sie mit dabei, aber andere Teilnehmer des Programms. Vor Ort erwarten sie ein Assistent und ein Mentor, Physiotherapie und eine WG, die sie sich mit einer Freiwilligen teilt, die keine Behinderung hat.

„Bezev hat das top organisiert“, sagt Vogel, die an einer angeborenen infantilen Zerebralparese mit Muskelstörungen leidet. Über die vergangenen Monate sei sie mit den Teilnehmern in Seminaren gut auf Ghana vorbereitet worden.

Die Organisation Bezev vermittelt jedes Jahr zwischen 15 und 20 Freiwillige in Projekte von Ecuador über Ghana, Indien, Kamerun, Mexiko, Tansania bis Uganda. „Unsere Einsatzstellen sind oft Einrichtungen, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen leben, zur Schule gehen oder arbeiten“, sagt Jelena Auracher vom inklusiven Freiwilligendienst im Bezev-Team in Essen. „Wir wollen sie befähigen und „empowern“, dass sie lernen, ihre Stärken zu sehen und nicht das, was sie nicht können. Danach werden sie oft genug beurteilt.“

Inklusiver Freiwilligendienst

Mit dabei seien unter anderem Gehörlose, die an Gehörlosenschulen gingen, oder eine Frau, die nur fünf bis zehn Prozent Sehfähigkeit habe. „Sie geht auch nach Ghana, wie Lily Vogel“, sagt Auracher. Behinderte können zwischen 18 und 35 Jahren teilnehmen. „Es ist ein staatlich geförderter Freiwilligendienst“, der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördert werde. Bezev gebe es seit 1995, inklusiv entsendet werde seit 2008.

Natürlich sei in den Zielländern Barrierefreiheit nicht gewährleistet. Und natürlich gebe es kulturelle Unterschiede, auch im Umgang mit Behinderten, sagt Auracher. Die Freiwilligen würden aber vorbereitet.

Und man dürfe nicht vergessen, dass es für sie auch in Deutschland jeden Tag Barrieren gebe. Im Ausland müssten sie „vielleicht pragmatischere Lösungen“ finden. In den Einrichtungen, in denen sie eingesetzt würden, seien die Menschen sehr offen. „Das ist ein Umfeld, in dem sie sich in der Regel sehr wohl fühlen.“

Wie bei allen Programmen ins Ausland gebe es auch Abbrüche. „Dass es schon mal Heimweh gibt oder nicht klappt, das gibt es.“ Aber: Es sei sehr selten, dass die Beeinträchtigung der Grund für den Abbruch sei. Und es gehe auch andersrum: Bei Voice Ghana habe gerade eine Frau um ein halbes Jahr verlängert, weil es ihr dort so gut gefalle. Sie hat die Glasknochenkrankheit.

Lily Vogel beschleichen im Vorfeld nur selten Gedanken, dass sie es nicht packen könnte. „Ich mache mein Ding. Ich habe mich schon öfter durchgebissen“, sagt sie. Vor ein paar Jahren habe ihr keiner zugetraut, dass sie den Realschulabschluss, geschweige denn das Abitur schaffe. Nach drei Jahren im Internat in Neckargemünd bei Heidelberg sei sie viel selbstständiger geworden – und traue sich das absolut zu. Mutter Katharina Vogel ist von dem Auslandsprojekt ihrer Tochter beeindruckt: „Ich kenne keinen Behinderten, der das gemacht hat. Es ist schon etwas Besonderes.“ (dpa)

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