"Lieber Arash, ich muss wissen, wo Du bist"

Neda ist zum Symbol des iranischen Widerstands geworden. Als die junge Frau in Teheran von einer Kugel getroffen wurde, versuchten zwei Männer, ihr das Leben zu retten. Einer von ihnen ist Arzt.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

Der brasilianische Bestseller-Autor Paulo Coelho erkannte ihn auf dem im Internet verbreiteten Video wieder. "Lieber Arash, ich muss wissen, wo du bist, ob das, was ich sehe/lese wahr ist. Dann kann ich selbst einen Standpunkt annehmen - natürlich abhängig von deinem Bericht."

Den Tod von Neda filmte ein Unbekannter mit einem Handy. Der Mann im weißen Hemd, der versucht zu helfen, ist der iranische Arzt Arash Hejazi.
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Den Tod von Neda filmte ein Unbekannter mit einem Handy. Der Mann im weißen Hemd, der versucht zu helfen, ist der iranische Arzt Arash Hejazi. Zur Großdarstellung klicken »

© Fotos: dpa

Mit dieser geheimnisvollen E-Mail setzt sich ein Drama fort, das ebenfalls im Internet seinen Anfang nahm. Kurz nach der umstrittenen Wahl im Iran, an einem jener Tage, an denen in Teheran Hunderttausende von Menschen auf die Straße gehen, geschieht ein Mord, der in der Welt für Entsetzen sorgt: Die junge Musikstudentin Neda Agha-Soltan, die gegen den vermeintlichen Wahlbetrug des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad protestiert, sackt, von einem Schuss getroffen, zusammen. Zwei Männer kümmern sich um sie. Der Jüngere, ein Mann in weißem Hemd, beginnt mit Erste-Hilfe-Maßnahmen. Blut quillt aus Nedas Mund und Nase. Die Welt wird Zeuge ihres Todes, denn jemand filmt die Szene und stellt die Aufnahmen ins Internet.

Ist der Freund von Coelho wirklich in Teheran?

Dort entdeckt sie auch der Bestseller-Autor Paulo Coelho. Den Mann im weißen Hemd erkennt er, es ist sein Freund Arash Hejazi, der in London lebt, weit weg von den bedrohlichen Ereignissen im Iran. Oder ist er es doch nicht? Um sicherzugehen und seinen Freund nicht in Gefahr zu bringen, verfasst er jene rätselhafte Mail und schickt sie am Sonntag, 21. Juni, um 23 Uhr an die ihm bekannte Adresse.

Wenige Stunden später, exakt um 2:05 Uhr, erhält er eine Antwort: "Liebster Paulo, ich bin jetzt in Teheran. Das Video von Nedas Mord hat ein Freund aufgenommen, und du kannst mich in dem Video erkennen. Ich war der Arzt, der versuchte, sie zu retten, und dabei scheiterte. Sie starb in meinen Armen. Ich schreibe mit Tränen in meinen Augen. Bitte erwähne nicht meinen Namen. Ich melde mich bald mit mehr Einzelheiten bei dir. In Liebe, Arash."

Zufällig ist der Arzt Arash Hejazi am Ort des Geschehens.

Coelho stellt das Video in seinen Internet-Blog und versucht, seinen Freund zu erreichen. Zunächst ohne Erfolg. Seine Sorge wächst. Am nächsten Tag schreibt er einen zweiten Brief. "Du MUSST auf diese E-Mail antworten und mir sagen, dass es dir gut geht", verlangt er. Um sicherzustellen, dass es wirklich Arash Hejazi ist, mit dem er in Kontakt steht, bittet er den Arzt, ihm den Namen eines gemeinsamen Freundes zu nennen. "Wenn du das nicht tust, werde ich deinen Namen in der Presse durchsickern lassen, um dich zu beschützen - Sichtbarkeit ist zu diesem Zeitpunkt der einzige Schutz. Ich weiß das, weil ich ein ehemaliger politischer Häftling bin." 1974 war Coelho zunächst vom damaligen Militärregime Brasiliens inhaftiert und später von paramilitärischen Einheiten verschleppt und gefoltert worden.

Arash Hejazi antwortet in der Nacht zum Dienstag. Er teilt ihm mit, dass es ihm gut gehe, und nennt Coelho den Namen des gemeinsamen Freundes. Zwei Minuten später findet der Schriftsteller eine zweite Mail in seinem Postfach: "Liebster Paulo, ich versuche morgen früh, das Land zu verlassen. Wenn ich nicht um 14 Uhr in London eintreffe, ist mir etwas zugestoßen. Warte bis dahin."

Arash nennt seinem Freund den Aufenthaltsort seiner Frau und seines Sohnes, deren Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Dann bittet er ihn, sich im Fall des Falles um seine Familie zu kümmern: "Sie sind da, allein, und haben niemand anderen in der Welt. Alles Liebe, es war eine Ehre, dich zum Freund zu haben. Arash."

In einem Interview erzählt der Arzt seine Geschichte

Am Mittwoch landet der iranische Arzt um 13:55 Uhr in London. Tage später gibt er dem britischen Sender BBC ein Interview, das Coelho ebenfalls in seinem Blog veröffentlicht. Hierin erzählt der Arzt von den Ereignissen jenes Tages, an dem Neda starb. Er sei bei Freunden gewesen, habe sich bei den Tumulten auf den Straßen unter die Protestierenden gemischt. Neda stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Plötzlich hört Arash Hejazi ein Geräusch. Dann sieht der Arzt, dass die junge Frau zusammensackt und aus ihrer Brust Blut strömt. Er bettet sie auf die Straße, versucht, die Blutung zu stoppen -  vergeblich. Seine Erfahrung sagt ihm, dass die Lunge und Aorta getroffen wurden. Aber das wird sich später nicht bestätigen lassen, weil Neda nach ihrem Tod umgehend beerdigt wird. Der aus dem Iran stammende Mediziner, der früher in seinem Heimatland als niedergelassener Arzt gearbeitet hat, kann nichts mehr tun, Neda stirbt innerhalb von einer Minute.

Ihr Tod soll nun untersucht werden. Hejazi sagt, er habe gesehen, wie die Menge nach Nedas Tod einen Motorradfahrer entwaffnete. Seine Häscher hätten ihn laufen lassen, weil sie nicht selbst zu Mördern werden wollten.

Das BBC-Interview mit Arash Hejazi und Paulo Coelhos Blog im Internet unter http://paulocoelhoblog.com/2009/06/26/

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