Schmerzempfindlichkeit hat auch kulturelle Ursachen

Eine ganz unterschiedliche Schmerztoleranz haben Forscher bei Europäern und Naturvölkern festgestellt.

Von Jürgen Stoschek Veröffentlicht:

NÜRNBERG. Schmerzen werden von allen Menschen mehr oder weniger gleich wahrgenommen. Anders verhält es sich mit der Schmerztoleranz und Angstgefühlen. Hier spielen vor allem soziale und kulturelle Einflüsse eine entscheidende Rolle.

Bei den Bewohnern des Berglandes von West-Neuguinea sind Schmerz und Angst ein selbstverständlicher Teil des Lebens, berichtete der Humanethnologe Professor Wulf Schiefenhövel bei einer Vortragsveranstaltung anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin in Nürnberg. Bereits Kinder erfahren Schmerzen durch Verletzungen und Wundinfektionen, für deren Behandlung den dort lebenden Menschen allenfalls archaische Methoden zur Verfügung stehen, berichtete Schiefenhövel bei der Veranstaltung, zu der Linde Gas Therapeutics eingeladen hatte. Zuwendung, Trost und das Einreiben mit Brennnesselblättern sei oft das einzige Mittel zur Schmerzreduktion.

Der inzwischen emeritierte Wissenschaftler hatte das Volk der Eipo in den Bergen Neuguineas erstmals 1974 besucht und dort 22 Monate mit den Bewohnern gelebt. Durch frühe Schmerzerfahrungen und durch ein Leben in Kälte und Hitze, mit Hunger und Durst finde ein "Schmerztraining" statt, das Kinder, Jugendliche und Erwachsene in die Lage versetze, auch schwerste Schmerzen stoisch zu ertragen.

Diese Beobachtungen stünden ganz im Gegensatz zur hohen Schmerzempfindlichkeit in unserer Bevölkerung, erklärte Schiefenhövel. Zugleich widersprach er der These vom "Schmerzgedächtnis", die zur Folge habe, dass auch geringe Schmerzen durch Medikamente auszuschalten seien. "Wenn Menschen und Tiere nach geringfügigen Schmerzerfahrungen für ihr Leben gezeichnet blieben, hätte die Natur einen lausigen Job gemacht", sagte der Ethnologe.

Ähnlich verhalte es sich mit Angst. Das Volk der Eipo lebe mit Gefahren, deren Ausmaße in Mitteleuropa unvorstellbar seien. Jeder vierte Mann sterbe eines unnatürlichen Todes. Im Gegensatz dazu sei die Wahrscheinlichkeit, hierzulande von jemandem getötet zu werden, extrem gering. Dennoch seien Ängste und Angststörungen in den westlichen Gesellschaften weit verbreitet.

Offenbar sei der Umgang mit realen Bedrohungen aus evolutionsmedizinischer Sicht leichter, wenn es plausible Erklärungen gibt - und seien es auch nur Götter, die Fehlverhalten mit Krankheit oder Unglück strafen, meinte Schiefenhövel. Unpersönliche Bedrohungen, für die es keine Sinnzuweisung und kein Angsttraining gibt, mündeten hingegen in psychiatrisch relevanten Angstzuständen, so Stiefenhövels Hypothese.

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Berufsbedingte Schäden

Wenn Musikmachen Muskeln, Sehnen und Gelenke krank macht

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

© HL

Herbstsymposium der Paul-Martini-Stiftung

Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Übersichtsarbeit zu Grippeimpstoffen

Influenza-Vakzinen im Vergleich: Nutzen und Risiken

Lesetipps
Sieht lecker aus und schmeckt — doch die in Fertigprodukten oft enthaltenen Emulgatoren wirken proinflammatorisch. Ein No-Go für Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.

© mit KI generiert / manazil / stock.adobe.com

Emulgatoren in Fertigprodukten

Hilfreich bei Morbus Crohn: Speiseeis & Co. raus aus dem Speiseplan!