Telefonseelsorge

Wege aus der Angst

Selbstmordattentat in Ansbach, Amoklauf in München, Axt-Attacke in Würzburg: Oft sind Telefon- und Onlineseelsorge letzter Rettungsanker für Menschen in Angst.

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Der evangelische Pfarrer und Online-Berater Norbert Ellinger sitzt mit einem Headset in einem Büro vom Evangelischen Beratungszentrum (ebz) in München.

Der evangelische Pfarrer und Online-Berater Norbert Ellinger sitzt mit einem Headset in einem Büro vom Evangelischen Beratungszentrum (ebz) in München.

© Matthias Balk / dpa

MÜNCHEN. Kummer, Krisen, Angst - reden hilft immer. Aber wenn man niemanden hat? Dann schlägt die Stunde der kirchlichen Telefon-, Online- oder Briefseelsorger.

Einer von ihnen ist Norbert Ellinger, evangelischer Pfarrer in München. "Gerade in der Telefonseelsorge spiegeln sich aktuelle Themen, die den Menschen Angst machen, sofort wieder", sagt der Berater vom Evangelischen Beratungszentrum (ebz) in München.

In jedem zweiten bis dritten Gespräch gehe es aktuell auch um den Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum mit zehn Toten.

Kapazitäten hochgeschraubt

Weil man wisse, dass nach solchen Taten die Anruferzahlen steigen, hätten sie die Kapazitäten direkt noch am Abend des Amoklaufs deutlich nach oben geschraubt, sagt der 52-jährige Vater von fünf Kindern.

Telefonseelsorger aus Ingolstadt und Augsburg nahmen extra auch Anrufe aus München entgegen. Und dann beginnt die schwierige Arbeit, im geduldigen Dialog Druck aus dem Kessel der Seele zu nehmen, zu beruhigen und Angst zu mildern.

Kein Gespräch ist wie das andere. Aber nicht nur Amokläufe oder Attentate beschäftigen die Anrufer: Als im vergangenen Jahr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war auch das ein oft angesprochenes Thema, das die Menschen tief bewegte.

Im vergangenen Jahr führte die Evangelische Telefonseelsorge München 21.380 Gespräche, etwa 2000 weniger als im Jahr zuvor. Die Mehrzahl der Anrufer rief wegen depressiver Verstimmungen oder Trauer an, wie Ellinger sagt. Frauen greifen öfter zum Telefon als Männer.

Etwas anders sieht es bei der Online-Seelsorge und vor allem bei der Chatseelsorge aus: Hier gehören zu den häufigsten Themen Krankheit und Einsamkeit - und das, obwohl man davon ausgehen kann, dass dieses Angebot eher jüngere Menschen nutzen.

"Bei der Telefonseelsorge im ebz sind die Schichten in der Regel fünf Stunden lang und das Büro ist mit einer Person besetzt", erzählt Norbert Ellinger. "Unsere Aufgabe ist es, jeden zu akzeptieren und anzunehmen, wie er ist. Auch wenn das manchmal schwierig sein kann."

Ausbildung dauert neun Monate

Im ebz arbeiten neben den Telefonseelsorgern auch noch neun ehrenamtliche Mail-Beantworter und 13 ehrenamtliche Chatter, die die zwei Hauptamtlichen unterstützen. Alle Ehrenamtlichen müssen eine neunmonatige Ausbildung durchlaufen, bevor sie am Telefon loslegen dürfen.

Bevor sie Mails beantworten oder mit den Leuten chatten, müssen sie zusätzlich schon zwei Jahre in der Telefonseelsorge gearbeitet haben. Die Chats dauern in der Regel maximal eine Stunde und können vorher verabredet werden. "Allerdings werden diese Verabredungen zum Chatten oft nicht eingehalten", sagt Ellinger.

"Die Nachfrage ist hoch. 2015 gab es 581 geschriebene Chats und es wurden 1324 Mails ausgetauscht", berichtet der 52-Jährige. "Sowohl Mails als auch Chats laufen über einen sicheren Server - es wird viel Wert auf Anonymität und Sicherheit gelegt.

Deswegen ist auch keine Kontaktaufnahme über Facebook möglich."Etwas anders sieht es bei Michael Thoma aus. Der 47-Jährige ist Referent für Seelsorge und Beratung bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern (ELKB), beantwortet allerdings nur selten E-Mails im seelsorgerischen Zusammenhang.

"Bei mir gehen im Jahr zwischen acht und zehn E-Mails ein, die ich als Seelsorger beantworte." Dafür ist auch er speziell geschult.

Kummer, Krisen, Konflikte

Die Vorteile der Online-Seelsorge beschreibt er so: "Ich habe das Gefühl, eine Mail wird schneller geschrieben als ein Brief, man tippt einfach rein, was man denkt und wie man es denkt." Aber es gibt auch eine Kehrseite: "Die Frage adäquat zu beantworten, ist in einer Mail viel schwieriger, weil der Druck viel höher ist."

Renate Nebas ist eine von 15 Ehrenamtlichen, die beim Landeskirchenamt für die Briefseelsorge zuständig sind. Die 84-Jährige beantwortet in der Woche ungefähr sechs Briefe nach bestem Wissen und Gewissen - und das schon seit 40 Jahren. "Das ist immer noch eine Herausforderung, die ich nicht missen möchte", sagt sie.

Die Menschen, die ihr schreiben, seien fast alle zwischen 25 und 55 Jahre alt. "Also genau die Gruppe, die in den Gottesdiensten nicht vorkommt, die aber trotzdem etwas von der Kirche erwarten", meint Nebas."Früher haben wir die Briefe ‚K-Briefe‘ genannt.

Das steht für Kummer, Krisen und Konflikte - und das sind die Hauptthemen, derentwegen uns die Menschen schreiben." Die Rentnerin erzählt, dass bei den Briefen - im Gegensatz zur Telefonseelsorge - Themen wie Amok und Terror eigentlich keine Rolle spielen und kaum von den Schreibenden erwähnt werden.

Viele Absender suchen Orientierung. Die Briefseelsorger versuchen, dazu anzuregen, neue Wege zu suchen und den Mut zu finden, diese dann auch zu gehen.

Die schönsten Worte, die Nebas von einer Frau als Rückmeldung bekommen hat, waren: "Sie haben mich da rausgeführt." (dpa)

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