Wenn der Zappelphilipp erwachsen wird

Von Elke Spanner Veröffentlicht:
Für Anette Schwarz ist es eine große Leistung, dass sie es schafft, ihren Alltag zu organisieren.

Für Anette Schwarz ist es eine große Leistung, dass sie es schafft, ihren Alltag zu organisieren.

© Foto: Nina Höffken

Dass plötzlich Musik anspringt, bekommen Anette Schwarz und ihre Freundin Michaela Ludwig× gar nicht mit. Der Lärmpegel im Raum ist hoch: Sechs Computer auf dem Schreibtisch summen wie ein Hochspannungsmast, darüber liegen die Stimmen der beiden Frauen. Erst Minuten später, in einer Atempause, blickt Anette Schwarz auf. "Seit wann läuft denn die Musik?" Hastig reißt sie die Tür zum Nachbarraum auf und zitiert ihre Söhne zur Tabletteneinnahme herbei. Ohne die Erinnerung durch die Musik, die zur programmierten Zeit anspringt, würde sie das vergessen, sagt die 40-Jährige.

Tabletten helfen, sich auf eine Sache zu konzentrieren

Für Anette Schwarz ist es eine große Leistung, dass sie es schafft, ihren Alltag zu organisieren. Sie braucht Hilfe dafür. Schwarz nimmt Tabletten, die ihr ermöglichen, die Reize um sich herum so zu fokussieren, dass sie sich auf eine Sache konzentrieren kann. Vorher hatte sie nur gemerkt, dass sie "irgendwie anders ist". Wollte sie die Küche aufräumen, stand sie eine Minute später im Badezimmer, weil sie den ursprünglichen Plan vergessen hatte.

Hatte sie einen Satz angefangen, war ihr mittendrin entfallen, was sie sagen wollte. Sie redete dann ziellos drauflos. Eine Warteschlange an der Kasse im Supermarkt - kaum auszuhalten. Ihr innerer Motor war nicht bereit, für die Zeit des Wartens einen Gang herunter zu schalten. Oft verfluchte sie sich und ihre Zerstreutheit, die den Alltag zum unüberwindbaren Problem werden ließ. Bis ein Psychiater ihr eine Diagnose präsentierte: Anette Schwarz hat ADS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

Eine erwachsene Frau mit einer Kinderkrankheit? Sie kannte die Diagnose von ihren Söhnen. Die Brüder, deren Wildheit sie früher oft zur Weißglut gebracht hatte, haben ADS. Dass aber auch Erwachsene darunter leiden können, wusste sie nicht. Sie hatte geglaubt, dass das Problem sich bei Kindern verwachsen würde, mit der Pubertät vielleicht. Seit vorigen Sommer nimmt nun bis auf den Vater die ganze Familie Ritalin®.

Der Kaffee ist längst kalt. Die Kuchenstücke liegen vergessen auf dem geblümten Teller. Anette Schwarz und Michaela Ludwig haben keine Zeit zum Essen. Immer wieder fallen sie einander ins Wort. Ihr Redetempo rührt nicht nur daher, dass beide ADS haben, wofür Ungeduld und Unkonzentriertheit als typisch gelten. Sie sind auch erleichtert darüber, sich dank der handfesten Diagnose offen zu ihren Problemen bekennen zu können und sich Schwierigkeiten nicht länger mit persönlicher Unfähigkeit erklären zu müssen. Anette Schwarz hat sich früher oft für das Chaos um sich herum geschämt.

Doch es ist erleichternd und gefährlich zugleich, sich Alltagsprobleme mit einer Erkrankung erklären zu können. Am Vormittag hat der Ehemann von Anette Schwarz etwas vergessen. "Das kann doch passieren", hat er erwidert, als sie es ihm vorgehalten hat. Wann aber ist eine solche Verhaltensweise noch normal?

Probleme von Erwachsenen mit ADS erscheinen oft alltäglich

Ohne das Wissen um ADS stünde die Frage nicht im Raum. Vergesslichkeit ist lästig, mehr nicht. Schwarz aber hat ihn geneckt, dass er wohl auch "ADSler" sei. Denn Erwachsene mit ADS sind zunächst unauffällig, eben weil ihre Probleme alltäglich erscheinen. Und weil viele einen Weg finden, trotzdem einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Anette Schwarz ist von Beruf Buchhalterin. Als sie ihren Arzt fragte, wie es kommt, dass sie einen Beruf bewältigen kann, in dem ausgerechnet Struktur und Ordnung wesentlich sind, sagte er: Das sei ihre Strategie, die Probleme zu beherrschen. "Das gibt Halt in diesem ganzen Chaos."

× Name geändert

ADS-Symptome bei Erwachsenen

Wer als Erwachsener ADS hat, war schon als Kind ein Zappelphilipp. Wissenschaftler haben ermittelt, dass elf Prozent der ADS-Kinder später noch unter den Symptomen leiden. Eine andere Studie kam auf eine Quote von 30 bis 50 Prozent. Fachleute gehen davon aus, dass 1,5 bis drei Prozent aller Erwachsenen ADS haben. Doch nur bei den wenigsten wird diese Diagnose gestellt.

Den Grund sieht der Arzt Dieter Claus darin, dass die Symptome unspezifisch sind. Es sind bislang nur einzelne Auffälligkeiten als typisch definiert: Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit und Impulsivität, ein extrem hohes oder niedriges Aktivitätsniveau oder auch beides im Wechsel. Zudem geht die Erkrankung meist mit weiteren medizinisch definierten Störungen einher. In seinem Buch "A.D.S. Das Erwachsenenbuch" erklärt er, dass im Erwachsenenalter insbesondere Affektstörungen auftreten, wie Depressionen, Zwänge und Ängste. (spa)

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