HINTERGRUND

Wie das Gehirn moralische Entscheidungen trifft

Von Rüdiger Vaas Veröffentlicht:

Es gibt Situationen, die stürzen nur beim Nachdenken einen in ein moralisches Dilemma. Was würde man tun, wenn eine Straßenbahn außer Kontrolle einen Berg herunterrast und fünf Menschen auf den Gleisen stehen? Und wenn es möglich wäre, eine Weiche umzustellen, dabei jedoch eine Person auf dem Nachbargleis ums Leben käme - sollte man die Weiche umstellen? Oder dürfte man einen dicken Mann auf die Schienen stoßen, sodass er den rasenden Zug aufhält?

Keine Frage: Würde eine Art ethische Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde gelegt, wären beide Aktionen besser als einfach abzuwarten. Umfragen ergaben aber, dass die beiden Alternativen für die meisten Menschen trotz derselben 5-zu-1-Abwägung nicht gleichwertig sind. Einer Mehrheit würde es leichter fallen, die Weiche umzustellen, als einen Unbeteiligten in den sicheren Tod zu schubsen. Woran liegt das? Warum fällt die Vorstellung, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen, leichter als die, ihn als Mittel zum Zweck zu benutzen?

Hirnscans ermitteln, wo die Gefühle lokalisiert sind

Welche Gefühle dabei wichtig sind, ist mittlerweile durch Hirnscans belegt, in denen US-Forscher die Hirnaktivität von Freiwilligen überwachten, während diese sich verschiedene Situationen vorstellten. Immer dann, wenn die Probanden an ein so genanntes persönliches moralisches Dilemma dachten - wie etwa das Straßenbahn-Beispiel - werden in ihrem Gehirn Areale aktiv, die Emotionen erzeugen und verarbeiten.

Noch genauer eingrenzen lässt sich der für solche moralische Entscheidungen zuständige Bereich, werden Menschen mit Hirnschädigungen untersucht. Besonders im Fokus steht dabei das mittlere untere Stirnhirn, auch VMPFC genannt. Es liegt über den Augen und verarbeitet und steuert emotionale Reaktionen.

Wie wichtig der VMPFC ist, sieht man etwa daran, dass sich die Persönlichkeit von Menschen mit einer Verletzung des Stirnhirns zum Teil dramatisch verändert: Sie neigen zu Gefühlsarmut, Mangel an Einfühlungsvermögen, zeigen kaum noch Mitleid, Scham oder Schuldgefühle und tendieren dazu, soziale Normen zu missachten. Viele fallen zudem durch Wutausbrüche, riskante Handlungen sowie kriminelle Akte auf.

Das Stirnhirn beeinflusst moralische Entscheidungen

Auch ihre Entscheidungsfähigkeit ist beeinträchtigt, vor allem, wenn es um komplexe Situationen geht, in denen Intuition eine wichtige Rolle spielt. Rein logische Zusammenhänge können die Patienten dagegen ebenso gut beurteilen wie Gesunde. Auf das Straßenbahn-Dilemma oder ähnliche Situationen reagieren sie aber vollkommen anders als der Durchschnitt - sie würden bedenkenlos den dicken Passanten opfern, konnten Forscher nachweisen. Das ist ein wichtiger Beweis dafür, dass Emotionen eine Schlüsselfunktion bei moralischen Entscheidungen haben. Was die Sache jedoch verkompliziert, ist die Entdeckung, dass der VMPFC nicht der einzige Verantwortliche für emotionale Reaktionen ist.

Denn genau die Menschen, die das Straßenbahn-Problem vollkommen kühl und logisch angehen, werden emotional, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Das zeigt eine Simulation, in der zwei Teilnehmer Geldbeträge untereinander aufteilen. Dabei kommt es immer wieder vor, dass einer der beiden Mitspieler auf sein Geld verzichtet - vor allem, wenn der andere ihm nur einen kleinen Betrag zugesteht, sich aber eine großen Batzen. Das letztere Verhalten ist häufig bei Menschen mit verletztem VMPFC zu beobachten: Ihre emotionale Motivation ist stärker, und sie akzeptieren niedrige Beträge mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht.

Genau umgekehrt ist es bei Menschen, bei denen ein anderer Teil des Stirnhirns mithilfe starker Magnetimpulse vorübergehend ausgeschaltet wird: Sie sind sich zwar der Ungerechtigkeit bewusst, nehmen aber auch sehr niedrige Angebote im Spiel an. In beiden Fällen scheint der normale Konflikt zwischen Egoismus und Gerechtigkeitsempfinden, den das Gehirn in solchen Situationen austrägt, zu entfallen, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse: Eine moralische Entscheidung zu fällen, ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Sie basiert sowohl auf Intuition und Emotionen als auch auf der Fähigkeit zum rationalen Denken - schließlich werden manche Entscheidungen bewusst gegen das eigene Gefühl getroffen. Für den ersten Teil unverzichtbar ist der VMPFC. Wo die anderen entscheidenden Hirnregionen liegen, muss sich in weiteren Studien noch herausstellen.(ddp)

STICHWORT

Stirnhirn

Mit funktioneller MRT konnten einzelnen Bereichen des präfrontalen Kortex spezifische Funktionen zugeordnet werden: dem ventromedialen präfrontalen Kortex (VMPCF) Emotionen, dem medialen präfrontalen Kortex höhere kognitive Funktionen und eine Bedeutung für unser Selbstbild. Eine Aktivität im dorsolateralen präfrontalen Cortex hingegen weist auf eine rationale Reaktion hin. (eb)

Mehr zum Thema

Kritik an „Suizidtourismus“ in den USA

Mehrere US-Bundesstaaten wollen Beihilfe zum Suizid erlauben

Glosse

Die Duftmarke: Frühlingserwachen

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Ulrike Elsner

© Rolf Schulten

Interview

vdek-Chefin Elsner: „Es werden munter weiter Lasten auf die GKV verlagert!“