Interview

"750 Patienten im Quartal sind ideal"

Unter den Medizinstudierenden hat ein Umdenken stattgefunden. Attila Altiner, Professor für Allgemeinmedizin, beobachtet zunehmendes Interesse am Leben als Landarzt. Im Interview verrät er, was den Nachwuchs wirklich motiviert.

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Professor Attila Altiner leitet seit 2009 das Institut für Allgemeinmedizin der Rostocker Universität.

Professor Attila Altiner leitet seit 2009 das Institut für Allgemeinmedizin der Rostocker Universität.

© Schnack

Ärzte Zeitung: Herr Professor Altiner, manche Hausärzte in Mecklenburg-Vorpommern behandeln weit über 1000 Patienten im Quartal. Wie motivieren Sie angesichts dieser Arbeitsbelastung Ihre Studierenden für die Allgemeinmedizin?

Prof. Attila Altiner: Das muss ich gar nicht! Als ich vor drei Jahren hier angefangen habe, hatte bereits ein Umdenkungsprozess begonnen. Die Studierenden sind aufgeschlossen für die hausärztliche Tätigkeit. Bei weit über 1000 Patienten ist man aber tatsächlich weit ab vom Idealzustand.

Ärzte Zeitung: Bei welcher Patientenzahl wäre der denn erreicht?

Altiner: Für ideal halte ich 750 Patienten im Quartal für einen in Vollzeit praktizierenden Hausarzt. Dann hätte man die richtige Balance zwischen Arbeitsbelastung und ausreichend Zeit für die Patienten. Aber das ist Wunschdenken und unter den herrschenden Bedingungen an vielen Orten nicht realisierbar.

Ärzte Zeitung: Die herrschenden Bedingungen lauten: es drängen immer mehr Patienten in die Praxen, manche Hausärzte nehmen schon gar keine neuen mehr an.

Altiner: Die Kollegen sind in einer echten Zwickmühle. Wenn sie Patienten ablehnen, droht diesen ein weiter Weg zum nächsten Arzt oder eine längere Wartezeit.

Prof. Attila Altiner

Aktuelle Position: Professor Attila Altiner leitet seit 2009 das mit 15 Mitarbeitern besetzte Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät Rostock. Der Lehrstuhl für Allgemeinmedizin wurde von der KV Mecklenburg-Vorpommern gestiftet.

Werdegang: Der 1969 in Oldenburg geborene Altiner hat in seiner Weiterbildung landärztliche Erfahrungen in Elsdorf (Nordrhein-Westfalen) gesammelt und hält diese bis heute für extrem wertvoll. Neben Forschung und Lehre betreut Altiner bis heute Patienten im Medizinischen Versorgungszentrum der Universitätsmedizin Rostock.

Aktivitäten: In der DEGAM ist Altiner Sprecher der Sektion Forschung, außerdem ist er Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin GHA. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Arzt-Patienten-Kommunikation und partizipative Entscheidungsfindung.

Nehmen sie weitere Patienten an, müssen sie die ohnehin schon eng getakteten Zeiten pro Patient weiter kürzen und ihnen droht eine zu hohe Belastung.

Ärzte Zeitung: …die aber in Mecklenburg-Vorpommern gut bezahlt wird. Wer in Regionen, die von Unterversorgung bedroht sind, über dem Durchschnitt behandelt, wird nicht abgestaffelt, sondern bekommt zusätzliches Geld.

Altiner: Das ist auch richtig so. Ein angemessenes Honorar ist eine Grundvoraussetzung, wenn man den Nachwuchs von der Allgemeinmedizin überzeugen möchte. Wir wissen, dass Hausärzte fair bezahlt werden wollen.

Die jetzt gerade wieder aufkochende Diskussion über Ärztehonorare ist da völlig kontraproduktiv. Aber natürlich wäre es fatal, wenn man das Nachwuchsproblem allein mit Geld zu lösen versucht - das kann nicht funktionieren.

Ärzte Zeitung: Was interessiert die Studierenden an der Allgemeinmedizin?

Altiner: Das erfahren wir über unsere 65 Lehrpraxen. In erster Linie sind es das breite Spektrum und die positive Rückmeldung der Patienten, die den Studierenden positiv auffällt. Dies verstärkt sich noch in Landarztpraxen.

Aber sie loben auch die gute Zusammenarbeit in den Praxisteams und die für viele überraschend gute Work-Life-Balance von Hausärzten. Offensichtlich beobachten die Studierenden, dass dies in der Praxis besser funktioniert als in der Klinik.

Ärzte Zeitung: Es gibt aber nicht nur positive Eindrücke.

Altiner:Überwiegend schon. Kritik gibt es meist an dem viel zu kurzen Praktikum, das ja nur eine Woche dauert. Viele würden auch gerne selbstständiger arbeiten.

Ärzte Zeitung: Wann entscheiden sich die Studierenden für die Fachrichtung?

Altiner: Die Entscheidung fällt bei vielen im PJ, Tendenz steigend. Deshalb ist es wichtig, dass ausreichend Rotationsstellen für Ärzte in Weiterbildung geschaffen werden.

Wir sehen gerade, dass es hier zu ersten Engpässen kommt. Wenn es mehr Stellen gäbe, hätten sich wahrscheinlich noch mehr Rostocker Medizinstudenten für die Allgemeinmedizin entschieden.

Ärzte Zeitung: Obwohl das Fach beliebt ist, landen derzeit zu wenige Hausärzte in der Flächenversorgung - warum?

Altiner: Viele der in der jüngsten Vergangenheit getroffenen Maßnahmen müssen und werden noch Wirkung entfalten. Ein Beispiel: Als junger Mensch möchte man eher dort leben, wo man zwanglos gleichaltrige Freunde treffen kann - diese Chance ist auf dem Land einfach geringer.

Deshalb war die Abschaffung der Residenzpflicht so wichtig. Man kann bei uns in einer Stadt wie Rostock, Greifswald oder Schwerin wohnen und gleichzeitig als Landarzt arbeiten. Wenn es irgendwo freie Autobahnen gibt, dann bei uns.

Ärzte Zeitung: Dennoch scheint die Landarzttätigkeit nicht wirklich "in" zu sein.

Altiner: Das muss sie auch gar nicht. Es geht ja nicht um Modetrends. Die Landarzttätigkeit hat so viele positive Facetten, dass es schon reicht, wenn nur genügend junge Ärzte erfahren, wie breit das Spektrum ist, wie gut die Zusammenarbeit mit den fachärztlichen Kollegen vor Ort funktioniert, wie gut die Bindung zu den Patienten dort ist.

Ärzte Zeitung: Also sollte jeder ein Zwangsjahr auf dem Land absolvieren, damit junge Ärzte diese Erfahrung machen können und sich dann entsprechend entscheiden?

Altiner: Mit Zwang erreicht man gar nichts. Man muss den Studierenden vermitteln, dass das alte Bild vom Landarzt, der mit seiner Tasche von Haus zu Haus fährt und ständig im Dienst ist, nicht mehr stimmt.

Heute sind Landärzte gefordert, die für komplexe Gesundheitsprobleme Konzepte erstellen. Dafür muss man nicht von Anfang an auch auf dem Dorf wohnen. Niemand ist gezwungen, sich sofort vollständig zu assimilieren.

Das Interview führte Dirk Schnack.

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