Arzneimissbrauch: Wege aus der stillen Sucht

Arzneimittelmissbrauch entsteht schleichend und bleibt lange unauffällig. Weit über eine Million Menschen, meist Frauen, sind nach aktuellen Schätzungen betroffen. Apotheker als letzte fachliche Kontrollstation habe hier eine hohe Verantwortung. Von Ruth Ney

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Die Zahlen sind alarmierend: Nach dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht, den die Bundesregierung im Mai vorgestellt hat, sind hierzulande mehr als 1,4 Millionen Menschen medikamentenabhängig, davon 70 Prozent Frauen. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch viel höher, da viele Medikamente mit Missbrauchspotenzial auf Privatrezept verordnet und damit statistisch nicht erfasst werden. Damit sind mehr Menschen von Arzneimitteln als von Alkohol abhängig (1,3 Millionen). Auch die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Arzneiabhängigkeit sind hoch. Sie werden auf etwa 14 Milliarden Euro beziffert. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD), sieht vor diesem Hintergrund Heilberufler in einer besonderen Verantwortung. Sie appelliert an Apotheker und Ärzte, beim Verschreiben und der Abgabe verstärkt ihr Augenmerk auf Medikamente mit Missbrauchspotenzial zu richten.

Den wenigsten Patienten ist ihre Abhängigkeit bewusst

Das besondere Problem bei der Medikamentenabhängigkeit ist, dass sie mehr noch als Alkoholabhängigkeit tabuisiert wird. Vielen Betroffenen ist auch gar nicht bewusst, dass sie von den Tabletten oder Tropfen, die sie regelmäßig etwa wegen ihrer Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen einnehmen, auch abhängig werden können oder es bereits sind. Denn immerhin vier bis fünf Prozent aller häufig verordneten Medikamente besitzen ein Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Nach den Benzodiazepinen, die den Löwenanteil der Arzneimittelabhängigkeiten bedingen, folgen Analgetika und Barbiturate, aber auch Antidepressiva, Opiate und Psychostimulantien. Zudem können Laxanzien, Appetitzügler, Antitussiva und alkoholhaltige Arzneien abhängig machen.

Das Problem Arzneimittelabhängigkeit durchzieht dabei alle Altersklassen. Bereits bei Jugendlichen ist es in, sich mit Tabletten "fit" zu halten. Frauen sind heutzutage offensichtlich besonders gefährdet, hohe Belastungen in Familie und Arbeit durch Einnahme von Medikamenten kompensieren zu wollen. So werden zwei Drittel aller verschriebenen Mittel mit Suchtpotenzial von Frauen eingenommen. Und auch alte Menschen sind aufgrund ihres veränderten Stoffwechsels, Komorbiditäten und seelischen Belastungen, etwa durch den Verlust eines Partners, gefährdet, schleichend von Medikamenten abhängig zu werden. Eine Auswertung von Langzeitverordnungen ergab, dass bis zu acht Prozent der Frauen über 70 Jahren eine Langzeitmedikation mit Benzodiazepinen erhalten. Und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) geht davon aus, dass bei fünf bis zehn Prozent der über 60-Jährigen ein zumindest problematischer Gebrauch psychoaktiver Medikamente und Analgetika vorliegt.

Gerade bei alten Menschen werden aber Einschränkungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit oder eine soziale Isolation gerne dem Alter zugeschrieben. "Dass eine erhöhte Sturzneigung und Verwirrtheit eigentlich an der missbräuchlichen Einnahme von Medikamenten liegt, wird zu selten bedacht", so Matthias Bastigkeit. Der Fachdozent für Pharmakologie beschäftigt sich schon lange mit den Problemfeldern Sucht und Arzneimissbrauch bei alten Menschen und Frauen. Um Kollegen für das Problem "Sucht" stärker zu sensibilisieren und dieses Wissen dann auch etwa in Schulen oder anderen Organisationen weiterzugeben, hat er eine Apotheker-Fortbildung zum "Fachberater Suchtprävention" erarbeitet. Organisiert von der Apothekerkammer Schleswig- Holstein und mit Unterstützung der Firma Essex fanden dazu im vergangenen Jahr mehrere eineinhalbtägige Seminare statt. Ein Aspekt war dabei auch der Bereich Arzneimittelmissbrauch etwa von Dextromethorphan, Benzodiazepinen und Codein.

Erfolgreiches Modellprojekt in Kooperation mit Hausärzten

Einen anderen Weg hat der Klinikapotheker Dr. Ernst Pallenbach aus Villingen-Schwenningen beschritten. Er hat sich direkt an Ärzte gewandt, um Patienten mit problematischem Benzodiazepinkonsum zu helfen. Der Arzt konnte betroffene Patienten dabei über ein Beratungsangebot des Apothekers informieren. Von insgesamt 38 interessierten Patienten verzichteten in dem Modellprojekt von Pallenbach in Zusammenarbeit mit den Hausärzten 50 Prozent vollständig auf die Beruhigungs- und Schlafmittel. Für Pallenbach war bei diesem Projekt wichtig, auch die eigenen Grenzen zu erkennen. "Ein Apotheker ist kein Psychiater und kein Psychotherapeut" sagte er zu ApothekerPlus. "Komorbide Patienten, Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen oder einer Hochdosisabhängigkeit gehören in eine Fachklinik". Denn der Apotheker könne und dürfe keinen Arzt ersetzen (siehe auch Interview rechts).

Wie sich Apotheker im Alltag bei Patienten mit Medikamentenabhängigkeit verhalten können, hat die Bundesapothekerkammer jetzt in einem 40-seitigen Leitfaden zusammengefasst.

Hier Lesen Sie

Wie groß der Anteil von Frauen und alten Menschen mit Arzneiabhängigkeit ist.

Wie Ärzte Möglichkeiten der Kooperation mit Apothekern bei Arzneimissbrauch sehen.

Wie Kollegen beim Thema Arzneimittelsucht aktiv geworden sind.

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