Kolumne aus Berlin
Die Glaskuppel zum ePA-Pflichtstart: Von der Bühne in die Praxis
Auf Kongressen wird viel über KI und Gesundheitsdaten diskutiert, doch bei den meisten Ärztinnen, Ärzten und Versicherten ist etwa die ePA noch nicht im Einsatz. Was es braucht, damit die digitale Transformation in der Versorgungsrealität endlich vorankommt.
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An diesem Abend treffen sich in Berlin viele Digital-Enthusiasten. Der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV) hat eingeladen. Die Stimmung ist betont locker, die meisten duzen sich wie selbstverständlich. Zu dieser Community gehört auch Matthias Mieves, für die SPD-Bundestagsfraktion Mitglied sowohl im Digital- als auch im Gesundheitsausschuss.
Zu Beginn des Abends gibt es aber erst einmal eine Anekdote, die nachdenklich stimmt. Auf der Bühne berichtet Dr. André T. Nemat von einem seiner Patienten, der eines Tages in seine Sprechstunde kam: sportlicher Mann im mittleren Alter. Diagnose: Lungenkrebs. Der Patient legt seine Smartwatch auf den Tisch und sagt: Sie können alle Daten auslesen und nutzen. Der Chefarzt für Thoraxchirurgie kann es nicht.
Das war vor zehn Jahren, berichtet Nemat. Hat sich seitdem viel verändert, fragt der Ingenieur und Mediziner das Publikum – und muss die Antwort nicht abwarten.
Viele reden bereits lieber über Künstliche Intelligenz
Eigentlich wollen viele Anwesende gar nicht mehr über Digitalisierung reden, sondern diskutieren lieber, wie wichtig der Einsatz Künstlicher Intelligenz künftig in der Gesundheitsversorgung sein wird. „Wir brauchen neue, digitale Wege“, fordert etwa Mieves. Und für seine Ausschusskollegin Simone Borchardt (CDU) spielen Digitalisierung und KI eine „Riesenrolle“.
Aber Mediziner Nemat konstatiert: „Die Faxgeräte stehen noch immer dort, wo sie stehen.“ Gerade die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte würden mit Klinik-Entlassbriefen kämpfen, die auch heute noch meist in Papierform versandt werden.
Dabei ist die elektronische Patientenakte (ePA) seit Monaten bundesweit im Roll-out, rüsten Praxen ihre PVS nach, und die Ärztinnen und Ärzte arbeiten sich und ihre Teams in die Technik ein. Seit 1. Oktober ist die „ePA für alle“ eine verpflichtende Anwendung im Gesundheitswesen hierzulande. Ist das nicht ein Meilenstein für die Digitalisierung?
„epa für alle“ ist bisher nur für wenige da
Doch bisher ist die Akte nicht für alle, sondern nur für wenige da. Eine Umfrage der Ärzte Zeitung unter den größten Krankenkassen hat gezeigt, dass zwar für fast alle GKV-Versicherten Akten angelegt wurden, aber nur die wenigsten diese nutzen. Warum hätte bislang eine Patientin, ein Patient auch in die Akte schauen sollen, wo doch die Praxen bis dato nicht dazu verpflichtet waren, Dokumente einzustellen.
Die Kassen setzen deshalb viel Hoffnung darin, dass nun die Nutzungszahlen steigen. Genauso sagen Ärzte zu Recht: Warum soll ich etwas in die versichertengeführte ePA einstellen, wenn sich die Versicherten für die ePA-App noch nicht einmal angemeldet haben. Es klingt ein wenig nach einer Henne-Ei-Diskussion, aus der wir uns endlich befreien müssen.
Beim „Tag der innovativen Gesundheitswirtschaft“ des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (vfa) schlägt Professorin Luise Hölscher einen optimistischen Ton an. „Die Digitalisierung ist nicht länger ein Zukunftsversprechen, sie ist Realität“, sagt die Staatssekretärin im neuen Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Die Gesundheitsbranche sei auf diesem Feld Vorreiterin, die Einführung der ePA biete enorme Potenziale.
Gesundheitsdaten sind Gold des Digitalzeitalters
Den Vertretern der Pharma-Firmen ist das zu wenig. Es geht ihnen nicht schnell genug. Für deren Forschung sind Gesundheitsdaten das Gold des Digitalzeitalters und unerlässliche Basis. „Wir diskutieren dieses Thema seit 20 Jahren und bekommen jetzt eine Patientenakte“, sagt Daniel Steiners, Deutschland-Chef von Roche. Da schwingt leise Enttäuschung mit. Zur Qualität der ePA will er lieber nichts sagen. Er winkt ab. „Bei uns vergilben noch zu viele Daten auf Papier in Aktenordnern.“
Auf der vfa-Veranstaltung fällt oft das Wort „Mindset“. Deutschland müsse schneller werden und brauche einen Digitalisierungsschub. vfa-Chef Han Steutel formuliert es drastisch: „Der Widerstand gegen Veränderung ist in der Gesundheitsbranche extrem groß, das Mindset im Versorgungsbereich ist sehr konservativ.“
Die Beschreibung mag richtig sein. Als Schuldzuweisung hilft sie in einem der tiefgreifendsten Transformationsprozesse, in dem sich das Gesundheitswesen in Deutschland befindet, wenig. Und tatsächlich geht es bei der Einführung neuer Technologien auch um das Mindset. Bei der Digitalisierung hat das vor allem etwas mit Machen zu tun.
Positive Nutzererlebnisse in der Praxis schaffen
Szenenwechsel: von den großen Bühnen von Diskurs und Theorie in Berlins Mitte in eine Hausarztpraxis im Stadtteil Friedrichshain. Hier sind viele junge Menschen unterwegs. Dennoch ist die ePA dort noch kein Thema. „Sie sind der Erste, der danach fragt“, antwortet der Praxisinhaber Anfang des Jahres einem seiner Patienten. Das Interesse ist geweckt.
Vor wenigen Wochen kommt die Gegenfrage an den Patienten: Sie haben die ePA doch auf Ihrem Handy? Zeigen Sie mir die App mal, die habe ich noch nie gesehen. Ein paar Klicks im PVS und wenige Sekunden später landet der Befund in der App. Arzt und Patient haben ihr erstes positives Nutzererlebnis mit der elektronischen Patientenakte.
ÄrzteTag-Podcast
Ist Ihre ePA schon befüllt, Frau Dimde?
Jahrzehnte nach den ersten Plänen für die ePA ist der Fortschritt zugegebenermaßen noch erschreckend überschaubar. Staatssekretärin Hölscher, von Amts wegen zum Digitalisierungsoptimismus verpflichtet, hat aber Recht, wenn sie sagt: „Wir müssen den Weg gemeinsam weiter gehen – mit Mut und Offenheit und Fokus auf die Menschen.“
Auch Digital- und Gesundheitspolitiker Matthias Mieves will das Thema positiv besetzen und ruft beim SVDGV-Abend den Teilnehmern zu: „Ich wünsche mir von jedem von euch, dass ihr positive Stimmungsmacher im System seid!“
Der Auftrag für alle Akteure im Gesundheitssystem ist damit klar definiert – rausgehen, machen und Menschen überzeugen. Denn Digitalisierung wird nicht auf Verbandstagen vorangetrieben, sondern im Versorgungsalltag.