Kolumne aus Berlin

Die Glaskuppel zur Notfallreform: Zustimmung und Zweifel

Krankenkassen sind voll des Lobes, Vertragsärzte warnen vor einem Steuerungssystem mit allzu langer Leine: Nina Warkens Entwurf einer Notfallreform ist bereits der dritte Anlauf auf ein Ziel, das noch nicht wirklich klar in Sicht ist.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Die Glaskuppel zur Notfallreform: Zustimmung und Zweifel

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In ein paar Wochen steht die Silvesternacht an. Für Ärztinnen und Ärzte in den Notfallambulanzen der Krankenhäuser und den Notdienstpraxen der Kassenärztlichen Vereinigungen ist diese Nacht in der Regel kein Anlass zum Feiern. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser laufen voll, auch die Belegschaften in den Notfallpraxen der KVen haben alle Hände voll zu tun.

Die Regel hat aber auch ihre Tücken. Immer mehr Menschen in Deutschland suchen im Krankheitsfall wie selbstverständlich die Notaufnahmen auf, anstatt eine Hausarztpraxis anzusteuern.

Einmal durch das Angebot an Krankenhausserien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezappt, macht deutlich, dass die Angebote des niedergelassenen Sektors in Notfällen dort weitgehend ignoriert werden.

Menschen im Land offen für Steuerung

Das soll sich mit der Notfallreform nun ändern. Die Vertragsärzte sollen mit der 116 117 die zentrale Notrufnummer betreiben und sich mit den Notaufnahmen der Krankenhäuser sowie dem Rettungsdienst vernetzen.

Es gebe in der Bevölkerung eine große Offenheit für eine bessere Steuerung von Notfällen mittels strukturierter Ersteinschätzungsverfahren, merkt die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Dr. Carola Reimann, an. 78 Prozent der Teilnehmenden an einer forsa-Befragung hätten den Einsatz eines solchen Verfahrens ebenso wie die Einteilung der Patientinnen und Patienten nach Dringlichkeitsstufen befürwortet.

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Nur 15 Prozent hätten dies abgelehnt. Die Untersuchung habe zudem ergeben, dass von den Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren in einer Notaufnahme waren, 30 Prozent stationär aufgenommen und im Krankenhaus behandelt worden seien. 60 Prozent seien in der Notaufnahme lediglich ambulant versorgt worden.

Ersteinschätzung als Dreh- und Angelpunkt

Für Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der größten Krankenkasse im Land, der Techniker, ist die Notfallreform eine „gute Nachricht“. Die Ersteinschätzung, sei es durch einen Anruf bei der 116 117 oder beim Integrierten Notfallzentrum (INZ), sei „Dreh-und Angelpunkt“ dafür, dass Hilfesuchende schnell die für sie bestmögliche Notfallversorgung erhielten.

Auf die telefonische oder digitale Ersteinschätzung als Kernelement der Reform hebt in seinem Kommentar auch der Vertreter des Vorstands beim Verband der Ersatzkassen, Boris von Maydell, ab. Er lobt die Absicht, den Rettungsdienst als Sachleistung im Sozialgesetzbuch zu etablieren. Maydell warnt allerdings davor, die Länder damit aus ihrer Finanzverantwortung zu entlassen. Der Rettungsdienst sei öffentliche Aufgabe der Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge. Gleichwohl sollte die Anzahl der Leitstellen verringert werden.

Drei Legislaturen, drei Reformanläufe

Eines hat Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) schon nach wenigen Wochen im Amt mit ihren Vorgängern Karl Lauterbach (SPD) und Jens Spahn (CDU) gemeinsam: Sie hat einen Entwurf zur Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes vorgelegt.

Dass ihr Vorhaben das Schicksal der beiden vorangegangenen Reformanläufe erleidet, wird sie sicherlich nicht wollen. Die schafften es nicht über die Hürden, die unterschiedliche Auffassungen in einer Koalition ebenso vor einem Projekt aufstellen können wie der parlamentarische Terminkalender oder schlicht die Halbwertszeit einer Regierung. Das Ampel-Aus hatte das Lauterbach`sche Notfallreform-Projekt jäh gestoppt, das sogar schon vom Kabinett beschlossen war.

Den drei Entwürfen von Jens Spahn, Karl Lauterbach und nun Warken gemein sind wissenschaftliche Vorarbeiten. Die hat zum Beispiel der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“, heute kurz: Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege im Jahr 2018 geleistet.

Wesentliche Bausteine wie die von KVen und Krankenhäusern gemeinsam betriebenen Integrierten Notfallzentren (INZ) haben zudem die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Marburger Bund gemeinsam entworfen.

Ressourcen der Niedergelassenen sind endlich

Physisch in Kontakt mit dem INZ kommen soll der Patient an einem von KV und Krankenhaus jeweils einzurichtenden gemeinsamen Tresen. Etwa 730 dieser Zentren hält der GKV-Spitzenverband für notwendig.

Blickt man etwas tiefer in die Krankenhausstrukturen hinein, gibt es aktuell rund 420 Krankenhäuser der Notfallstufen zwei und eins. Das sind Krankenhäuser, die vorgegebene Fachabteilungen unterhalten und einen Hubschrauberlandeplatz. Die Krankenhäuser der höchsten Stufe sind in erster Linie Universitätskliniken. Sie müssen für die Einstufung mindestens 20 Intensivbetten, auch solche mit Beatmungskapazitäten vorhalten.

Kein INZ zu betreiben, heißt aber nicht, dass ein Krankenhaus nicht in das Notfallsystem als Ganzes eingebunden ist. Auch dort soll im Notfall eine Ersteinschätzung des Behandlungsbedarfs von Patienten vorgenommen werden. Danach sollen diese aber in eine Klinik mit INZ gesteuert werden.

Wie viele INZ dürfen es denn sein?

Wie viele Notfallzentren am Ende über das Land verteilt sein werden, wird sicherlich ein spannender Punkt der parlamentarischen Beratungen eines Notfallreformgesetzes sein. In einem Begleitpapier zum Gesetzentwurf heißt es, dass die INZ „flächendeckend etabliert“ werden sollen. Der Begriff ist interpretationsfähig. Länder und Kommunen werden ein Auge darauf haben.

Sorgen bereitet der Gesetzentwurf von Warken den Vertretern der Vertragsärzte. Es bleibe unklar, was die Integrierten Notfallzentren während der Praxisöffnungszeiten leisten sollen. Es widerspreche dem Prinzip einer ernst gemeinten Steuerung, wenn Patientinnen und Patienten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, nach eigenem Gutdünken Notdienste oder Rettungsleitstellen in Anspruch nehmen könnten, warnen die Vorstände der KBV.

Hausbesuch bestellen per 116 117?

Eine wichtige Säule der geplanten künftigen Notfallversorgung haben die Kassenärztlichen Vereinigungen in den vergangenen Jahren bundesweit auf- und ausgebaut: die Notfallnummer 116 117. Ihre Dienste sollen sogar mit einem aufsuchenden Hausbesuchs-Service verknüpft werden.

Ein solcher soll allerdings nur ausgelöst werden, wenn keine Vermittlung in eine regulär geöffnete Praxis möglich ist, eine telemedizinische Beratung nicht angeraten und eine Versorgung im Notfallzentrum im Einzelfall nicht möglich sein sollte.

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Der Punkt stößt auf Widerstand der KBV. Im Ministerium werde schlichtweg ignoriert, dass die Ressourcen der Niedergelassenen begrenzt seien. Das Argument, damit würden Arztpraxen entlastet, sei fern der Realität. Schließlich müssten auch die Fahrdienste mit Ärztinnen und Ärzten besetzt werden, warnen die KBV-Vorderen Dr. Andreas Gassen, Dr. Stephan Hofmeister und Dr. Sibylle Steiner.

Diskutiert wird längst auch eine weitere Facette der geplanten Reform: die Vermittlung von der 116 117 direkt in eine nahe gelegene Praxis , in eine Videosprechstunde oder in offene Sprechstunden. Ende all dessen? Völlig offen!

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