Diskussionsrunde
"Geschäftsführend" reicht nicht: Eine Reformkoalition ist nötig
Die AOK Baden-Württemberg lädt Journalisten zum Gesundheits-Talk. Bei der Analyse sind Kassenchef und Podiumsgäste nahe beieinander: Das Gesundheitswesen braucht klare Reformperspektiven.
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Diskutieren die Reformagenda (v.l.): Moderator Wolfgang Molitor, Anette Dowideit („Welt“), Dr. Christopher Hermann, Anno Fricke („Ärzte Zeitung“), Norbert Wallet („Stuttgarter Nachrichten“), Dr. Bernadette Klapper (Robert Bosch Stiftung).
© AOK Baden-Württemberg
STUTTGART. Journalisten und Gesundheitsexperten haben bei "AOK Baden-Württemberg im Dialog" in der Stuttgarter Staatsgalerie die Gesundheitspolitik kontrovers diskutiert. Kurz zuvor waren die Jamaika-Koalitionsverhandlungen gescheitert.
Norbert Wallet, Hauptstadtkorrespondent der "Stuttgarter Nachrichten", gewinnt dem Debakel in Berlin etwas Positives ab. Die Sondierungen seien "nicht am Zankapfel Gesundheitspolitik gescheitert."
Bei vielen Themen wie der Bürgerversicherung sei "die ideologische Luft raus". Anette Dowideit, Reporterin des Investigativteams bei der "Welt", bestätigt die "überraschende Einigkeit der Sondierer". Ohne eine tatsächlich geschäftsfähige Regierung sieht sie aber wenig Hoffnung auf Bewegung bei wichtigen Themen wie etwa Pflege.
Handlungsbedarf bei der Pflege
Denn obwohl es mit dem Pflegestärkungsgesetz weitreichende Reformen gegeben habe, macht die Runde deutlich: Bei der Pflege ist weiter akuter Handlungsbedarf. Das Wort vom "Pflexit" mache unter den Pflegefachkräften die Runde. "Am Geld allein liegt es nicht", glaubt Dr. Bernadette Klapper von der Robert Bosch-Stiftung. Das Problem des Gesundheitswesens in Deutschland sei, dass mit viel Geld nur viel Mittelmäßigkeit erreicht werde, sagt die Bereichsleiterin des Gesundheitsressorts und zitiert als Beleg eine aktuelle OECD-Studie.
Dr. Christopher Hermann, Chef der AOK Baden-Württemberg, pflichtet ihr bei: "Reinpumpen von Geld an die falschen Stellen im System verbessert nichts." Diese Politik sei lange genug betrieben worden. Die Forderung nach einer Milliarde Euro zur Digitalisierung der Kliniken hält er für genauso abstrus wie zentralistische Vorgaben zur Bettenzahl. Gerne würde er "mit der Machete durch den ganzen Paragrafendschungel fahren".
Von einer Regierung fordert er Rahmenbedingungen, die den Teilnehmern Gestaltungsfreiräume lassen. "Welt"-Reporterin Dowideit bestätigt, dass Geld an den falschen Stellen versickere. Ihre Forderung: "Korruption und Mondpreisen für Arzneimittel einen Riegel vorschieben." Moderator Wolfgang Molitor will wissen, was Ärzte erwarten. Anno Fricke, Redakteur der "Ärzte Zeitung", erläutert dass die KVen zum Beispiel das Belegarztwesen wieder aufleben lassen wollen. Eine unübersichtliche Gebührenordnung etwa mache Ärzten die Abrechnung von Leistungen schwer.
Leere Spritze als Symbol
Zu Beginn hatte Moderator Molitor den Podiumsteilnehmern symbolisch je eine leere Spritze überreicht. Ob es am Placebo-Effekt oder am Thema lag: Die Hallo-Wachspritze schien bei den rund 300 Zuhörern zu wirken. Aufmerksam folgten sie den Rednern nicht nur beim Thema Digitalisierung. Hier war sich das Podium einig: Diese Welle kommt. Sogar "mit einer Wucht", sagt Anno Fricke, "die den Betroffenen jedoch noch nicht klar zu sein scheint".
Nicht nur an diesem Punkt aber wurde deutlich, wie unterschiedlich die einzelnen Interessen im Gesundheitswesen bei der Digitalisierung sind. Da können künftig Medikamente verordnet werden, die nach der Einnahme ein Signal an den Arzt funken. Das wirft Fragen nach Überwachung und Datenschutz auf. Genau wie die elektronische Patientenakte. Die meisten Ärzte hingegen beschäftige ein anderes Problem, unkt AOK-Chef Hermann: Wo sie ein neues Fax-Gerät herbekämen, da diese nicht mehr hergestellt werden. Damit hat er die Lacher auf seiner Seite.
Deutschland indes hat seit zwei Monaten nur noch eine geschäftsführende Regierung. Eine neue Koalition ist noch nicht in Sicht. Herausforderungen wie die Digitalisierung, darin sind sich die Akteure einig, drängen nach Verbindlichkeit anstatt nach "Reformitis". Doch die Rahmenbedingungen sind nicht danach.
Norbert Wallet beobachtet sowohl bei Politikern wie bei Journalisten einen Mangel an Kompetenz, die Situation in Gänze zu überschauen. Beide seien auf Einschätzungen von Experten angewiesen. Objektive und nicht interessengeleitete Aussagen aber seien im Gesundheitswesen kaum zu finden.