Hilfsangebot
„Kein Parallelsystem“- seit 2017 gibt es den anonymen Krankenschein in Thüringen
Der anonyme Krankenschein ermöglicht in Thüringen Menschen ohne ausreichenden Versicherungsschutz eine medizinische Behandlung. Im vergangenen Jahr erreichte die Inanspruchnahme einen neuen Höchstwert.
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37 Arztpraxen und Beratungsstellen geben in Thüringen den anonymen Krankenschein aus. Für viele Menschen ohne Versicherungsschutz wirkt er wie ein Rettungsring.
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Erfurt. Ob Schwangerschaft, Herzprobleme, entgleister Diabetes oder Unfall: 228 nicht krankenversicherte Menschen in Thüringen haben im vergangenen Jahr mithilfe des anonymen Krankenscheins ärztliche Hilfe erhalten. Insgesamt seien 386 Scheine über das aus Landesmitteln finanzierte Hilfesystems ausgegeben worden, teilte Projektkoordinator Tim Strähnz auf Anfrage der Ärzte-Zeitung mit. Die Zahl der ausgegebenen Scheine hat damit einen neuen Höchstwert seit dem Projektstart 2017 erreicht. Das Hilfsangebot richtet sich an deutsche Staatsbürger, die ihren Versicherungsschutz verloren haben, an EU-Bürger und Menschen aus Drittstaaten ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Je Schein sind mehrere Behandlungen pro Quartal möglich.
Der anonyme Krankenschein wird thüringenweit in 37 Arztpraxen und Beratungsstellen ausgegeben, Hilfesuchende können sich damit an jede Arzt- oder Zahnarztpraxis und an jedes Krankenhaus in dem Bundesland wenden. Um die Anonymität der Hilfesuchenden zu bewahren, steht auf dem jeweiligen Krankenschein ein Pseudonym. Unter diesem werden diese Patienten auch im Wartezimmer aufgerufen. Den Klarnamen sollen die Ärzte allerdings intern dokumentieren, um die Patienten bei Bedarf kontaktieren zu können. „Vor allem bei meldepflichtigen Erkrankungen“, erläuterte Strähnz.
Ein Krankenschein deckt Behandlungskosten bis zu 500 Euro ab. Bei höheren Beträgen – die etwa im Fall stationär behandelter schwerwiegender Erkrankungen schnell zusammenkommen – muss die Kostenübernahme vorher geklärt werden. Das führt in manchen Fällen zu schwierigen Konstellationen, wie der Projektleiter schilderte.
Bei Klinikaufenthalten wird es kompliziert
Derzeit sei beispielsweise verstärkt zu beobachten, dass Kliniken von den Sozialämtern bei Kosten für Notfallbehandlungen von nicht Krankenversicherten hängen gelassen würden oder den bürokratischen Aufwand scheuten, sich das Geld von den Ämtern zu holen. Stattdessen erhofften sie sich Hilfe über den anonymen Krankenschein. Zum Hilfsprojekt gehört auch eine Clearingstelle, die prüft, ob andere Kostenträger zuständig sind, zum Beispiel eine Krankenversicherung oder Sozialämter. Etwa 80 Hilfesuchende haben diese Beratungsstelle im vergangenen Jahr aufgesucht.
Dass mehr Menschen den anonymen Krankenschein in Anspruch nehmen, führt Strähnz vor allem auf den gestiegenen Bekanntheitsgrad zurück. Indikatoren für ein „Parallelsystem“ zur gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung – den Vorwurf bekommt das Netzwerk mitunter zu hören - sieht Strähnz nicht. Darauf lässt auch die Zahl der erbrachten Behandlungen schließen: 603 überwiegend ambulante Behandlungen wurden 2024 abgerechnet, was statistisch etwa eineinhalb Behandlungen je Schein entspricht. Zur Einordung: Die Praxen ambulant tätiger Ärzte verzeichnen pro Jahr etwa 18 Millionen Behandlungen gesetzlich Krankenversicherter, das entspricht etwa neun Arztbesuchen pro Einwohner jährlich.
Viele sind nur kurzfristig ohne Versicherungsschutz
Das Gros der anonym behandelten Patienten durchlaufe das Hilfssystem „eher kurzfristig“, so Strähnz. Sehr häufig sei der nicht funktionierende Übergang von einem Sozialleistungsträger zum anderen – etwa der Wechsel aus dem Rechtskreis Asylbewerberleistungsgesetz ins Bürgergeld – Grund. Aber auch Aufstocker, deren Folgeantrag auf Bürgergeld noch nicht beschieden sei, oder Ausbildungsabbrecher, die ihre Krankenkasse nicht rechtzeitig über diesen Schritt informierten, könnten kurzzeitig ohne Versicherungsschutz dastehen. „Das fällt mitunter erst in der Arztpraxis auf, wenn die Chipkarte nicht funktioniert.“
Der anonyme Krankenschein war in Thüringen unter der früheren rot-rot-grünen Landesregierung eingeführt worden, die jetzige Landesregierung aus CDU, BSW und SPD führt das Projekt bislang fort. 2024 standen dafür 445.000 Euro aus dem Landeshaushalt zur Verfügung, in diesem Jahr sind 500.000 Euro beantragt.