Muslimische Patientinnen in der Praxis - da ist sehr viel Sensibilität gefragt

Andere Länder - andere Sitten: wenn muslimische Patientinnen, die mit der deutschen Kultur nicht vertraut sind, zum Arzt gehen, dann kann es leicht Missverständnisse geben.

Von Marion Lisson Veröffentlicht:
Kopftücher und lange Gewänder: Muslimische Frauen in der Innenstadt von Hannover.

Kopftücher und lange Gewänder: Muslimische Frauen in der Innenstadt von Hannover.

© Foto: imago

Adigün sitzt mit Cousine und Nichte im Behandlungszimmer ihres Hausarztes. Alle drei haben lange Gewänder an und tragen ihr Kopftuch tief in die Stirn gezogen. Die beiden Verwandten stützen die alte Dame. In ihrer Heimat - der Türkei - ist es üblich, nicht allein zum Arzt zu gehen. Die Familie ist immer dabei. Viele deutsche Hausärzte, wie auch Dr. Peter Engeser aus Pforzheim, sind mit diesen Gewohnheiten vertraut.

Adigün, die alte Dame, die seit mehr als 35 Jahren in Deutschland lebt, ist sterbenskrank. Die 77jährige hat Krebs und wird nicht mehr lange leben. Schon bald wird sie eine palliativmedizinische Versorgung brauchen. Mit den meisten deutschen Patienten würde Engeser jetzt mit einfühlsamen aber dennoch klaren Worten über die Diagnose, die Folgen und über die noch verbleibende Zeit sprechen wollen. Aber das könnte sich bei dieser Patientin als problematisch erweisen

"Achtung: Türkische Patienten wollen nicht alles über ihre Krankheit wissen. Das Wort Krebs wird nicht oder kaum ausgesprochen", warnt Dr. Dilek Dizdar, Kommunikationswissenschaftlerin von der Universität Mainz.

Fakten lieber indirekt vermitteln!

"Türken kommunizieren indirekt", sagt Dizdar, die selbst in Tübingen geboren ist. Statt das Wort "Krebs" auszusprechen, spreche man besser von einer "schwerwiegenden Erkrankung". Das werde ebenfalls verstanden. "Man kann indirekt Fakten übermitteln", bestätigte auch ihre Kollegin Dr. Sebnem Bahadir. Man brauche dem Patienten nicht zu sagen: "Sie haben noch sechs Wochen lang zu leben". Stattdessen könne man in dieser finalen Phase den Kranken auffordern, zum Beispiel in nächster Zeit noch einmal den Bruder aus der Türkei nach Deutschland einzuladen oder den nahenden Sommer bewusst im Kreise der Familie zu verbringen. "Das verstehen alle Beteiligten", sagte Dr. Batuhan Parmakerli-Czemmel. Die Familie übernimmt nach seinen Worten in den meisten muslimischen Familien den Beschützerauftrag. Mit ihnen könne der Hausarzt, wenn gewünscht, dann Klartext sprechen, sagt der Vorsitzender des Ausschusses "Ausländische Patienten" der Bezirksärztekammer Nordbaden.

Bei deutschen Ärzten, die sich vor einiger Zeit in Heidelberg mit diesem speziellen Migrations-Thema beschäftigt haben, ist das eine verblüffende Erkenntnis. "Ich habe einer türkischen Patientin, die einen enormen Bluthochdruck hat erklärt, sie hätte eine schwerwiegende Erkrankung, damit sie sich regelmäßig bei mir wieder einfindet und ich sie überwachen kann", sagte ein Hausarzt. Auch andere schienen über frühere Begegnungen mit muslimischen Patienten kritisch nachzudenken. "Ich bin sehr verunsichert. Ohne es zu wollen, bin ich wohl bisher wie ein Elefant auf meine türkischen Patienten zugestolpert", gestand ein anderer Allgemeinarzt.

Rund 15,3 Millionen Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund leben derzeit in Deutschland, darunter etwa drei Millionen Anhänger islamischen Glaubens.

"Viele Hausärzte verlassen sich auf ihre Erfahrung, ihr Gefühl und ihre natürliche Gabe zu kommunizieren, wenn sie mit ausländischen Patienten zu tun haben. Doch das reicht nicht aus!", macht Kommunikationswissenschaftlerin Dizdar deutlich. Die Schwierigkeit sei, dass man sich der Probleme und Unterschiede der Kulturen nicht wirklich bewusst sei. "In der eigenen Kultur handelt man intuitiv richtig und weiß, was man ansprechen darf und was nicht", so Dizdar. Im Umgang mit fremden Kulturen müsse man sich diese Sensibilität erst aneignen.

Keine besinnlichen Stunden

Es gebe zum Beispiel keine besinnlichen Stunden oder Minuten, wenn das Leben eines muslimischen Menschen zu Ende gehe, berichtet Bahadir. Kollektive Abschiedszenen bei denen alle Familienmitglieder und Freunde sich um den sterbenskranken sammeln, seien dagegen die Regel. "Als vor einem Jahr meine Mutter starb, war das Haus voll. Für mich als Türkin, die aber in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, war das zum Teil selbst nur schwer zu ertragen", berichtet sie offen. Sie selbst habe doch immer wieder das Gefühl gehabt, mit ihrem Schmerz allein sein zu wollen.

"Es geht nicht darum, dass Sie alles über die türkische Kultur lernen müssen. Sie müssen vielmehr Verhaltensmuster erkennen und Sensibilität gegenüber anderen Kulturen aufbauen", rät Dizdar Ärzten.

In Kliniken könnte das medizinische Fachpersonal sein Problembewusstsein schärfen. Darüber hinaus sollten aus ihrer Sicht "Kulturmittler" - also Personen, die sowohl in den Sprachen als auch in der Vermittlung von Fachinhalten kompetent seien - eingesetzt werden. "Wenn es derzeit Übersetzungsschwierigkeiten gibt, werden x-beliebig Schreibkräfte, Reinigungskräfte oder Kinder der Patienten herangezogen", kritisiert Dizdar.

Achtjährige übersetzt beim Gynäkologen

Sie selbst habe im Alter von acht Jahren bereits in der Gynäkologie zwischen Ärzten und ihrer Mutter übersetzen müssen. Eine Aufgabe, mit der sie damals völlig überfordert gewesen sei. "Ich nehme grundsätzlich keine Kinder als Dolmetscher, wenn es darum geht, schwerwiegende Diagnosen zu vermitteln. Damit würde ich ihnen die Jugend stehlen", gab ihr Dr. Werner Reininghaus aus Knittlingen recht.

Doch nicht nur die Hausärzte sollten ihre Hausaufgaben machen, forderte eine Ärztin in Heidelberg. Auch die Migranten selbst müssten ihren Teil dazu beitragen, in Deutschland zurechtzukommen. Ihre Botschaft: "Sie müssen auch unsere Kultur kennenlernen und begreifen, dass wir Probleme haben, wenn 15 Leute im Krankenhaus auf die Station kommen, um einen Angehörigen zu besuchen."

So werden Missverständnisse vermieden

Verhaltensregeln, die hilfreich sein können:

  • Nicht sofort mit festem Händedruck auf türkische Patienten zur Begrüßung zueilen. Wenn überhaupt ist ein leichter Händedruck üblich.
  • Patientinnen, die beispielsweise mit Kopftuch und hochgeschlossener Kleidung die Praxis betreten, sollten zunächst gefragt werden, ob und in wie weit es für sie in Ordnung ist, sich für notwendige Untersuchung zu entblößen.
  • Diagnosen wie zum Beispiel "Sie haben Krebs" nicht sofort vor dem Patienten äußern, sondern zunächst als "schwerwiegende Erkrankung" umschreiben. Abwarten, wie Patienten reagieren, ob sie nachfragen und weitere Informationen überhaupt wünschen. Wenn nein, sollte das das Gespräch mit Angehörigen gesucht werden. Sie haben in der Regel den Beschützerauftrag.
  • Kinder als Dolmetscher einzusetzen, ist in der Regel problematisch! (mm)
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