Überversorgung

Praxisaufkauf als neue Drohkulisse

Ordenlich Sprengstoff haben die Gesundheitsweisen in ihr Gutachten gesteckt: Ab 200 Prozent Versorgungsgrad sollen KVen Arztsitze aufkaufen, wird dort empfohlen. Werden Praxen bald zwangsweise dichtgemacht?

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
"Überversorgtes" Heidelberg: Allein dort wären sechs Fachgebiete betroffen, in denen Praxen zwangsweise aufgekauft werden müssten.

"Überversorgtes" Heidelberg: Allein dort wären sechs Fachgebiete betroffen, in denen Praxen zwangsweise aufgekauft werden müssten.

© sborisov / fotolia.com

STUTTGART. Auf heftigen Widerstand stoßen die Gesundheitsweisen mit ihrem Vorschlag, in Planungsregionen mit einem Versorgungsgrad von mehr als 200 Prozent sei die "Förderung des freiwilligen Verzichts bzw. der Aufkauf von Arztsitzen" eine "wichtige Maßnahme".

Der Sachverständigenrat hat in seinem im Juni vorgelegten Gutachten empfohlen, statt der von der Koalition geplanten Soll-Regelung beim Aufkauf frei werdender Arztsitze eine Muss-Regelung zu verankern. So könne die "Perpetuierung ausgeprägter ambulanter Überkapazitäten vermieden werden", schlägt der Rat vor. Von diesem Vorschlag ausgenommen werden sollen nur Psychotherapeuten.

Baden-Württembergs KV-Chef Dr. Norbert Metke zeigt sich über diesen Vorschlag entsetzt: "Ich finde es erschreckend, wenn dieses Mittel in der Gesundheitspolitik eine Renaissance erleben sollte", sagte Metke der "Ärzte Zeitung".

Der Sachverständigenrat hat im Falle eines Aufkaufs eine Entschädigung des Praxiswertes vorgeschlagen, der sich aus dem GKV-Umsatzanteil ergibt - auch das ist hochgradig umstritten.

In Baden-Württemberg wären - wenn der Sachverständigen-Vorschlag politische Realität würde - nach einer Analyse des KV-Vorstands 140 Facharztsitze in 22 Planungsbereichen betroffen, darunter allein 70 Arztsitze bei den fachärztlichen Internisten.

In Heidelberg wären sogar sechs Fachgruppen - Chirurgen, Hautärzte, Kinderärzte, Nervenärzte, Orthopäden und Internisten - von einer solchen Vorgabe für den Aufkauf betroffen. In Freiburg würden fünf Fachgruppen erfasst sein, in Tübingen und Ulm jeweils drei.

Praxisaufkauf und Zuschlag zugleich

Die KV hat die landesweiten Konsequenzen einer verpflichtenden Aufkaufregelung analysiert. Dabei hat man auch den Vorschlag der Sachverständigen für einen bis zu 50-prozentigen Landarztzuschlag in unterversorgten Regionen berücksichtigt.

Das Ergebnis, laut Metke: "Wir hätten Landkreise, wo wir einerseits einen Landarztzuschlag zahlen müssten, andererseits Praxen aufkaufen müssten." Dies bezeichnet er als "kompletten Irrsinn".

Aus Sicht des KV-Chefs steht die Förderung des Aufkaufs von Arztsitzen quer zu den von der Koalition geplanten Terminservicestellen: "Wie jemand auf den Vorschlag kommen kann, heute Versorgungskapazitäten abbauen zu wollen und gleichzeitig zu wenige Facharzttermine für Kassenpatienten anprangert, erschließt sich mir nicht", sagt Metke.

Er verweist außerdem darauf, dass die Versorgungsgrade in den Planungsbezirken wenig mit der Versorgungsrealität zu tun haben: "Dazu sind die Zahlen viel zu wenig versorgungswissenschaftlich fundiert und viel zu viel politisch motiviert."

Die Gesundheitsweisen haben in ihrem Gutachten ebenfalls vorgeschlagen, dass die Vergütungszuschläge ab einem Versorgungsgrad von weniger als 90 Prozent bei Hausärzten und weniger als 75 Prozent bei Fachärzten greifen sollten. Dies würde bei Hausärzten im Südwesten auf sechs Planungsbezirke mit 164 Ärzten zutreffen.

Bei den Fachärzten würden - wenn der Ratsvorschlag umgesetzt würde - sieben HNO-Ärzte im Enzkreis und Neckar-Odenwald-Kreis sowie sieben Gynäkologen in Freudenstadt einen Zuschlag erhalten.

Dass diese Zuschläge, wie der Rat es vorschlägt, aus der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung gezahlt werden sollten, lehnt die KV ab. Denn dadurch würden alle anderen Ärzte quasi für ihren Standort bestraft.

Studenten wollen Planungssicherheit

Auf der anderen Seite wären in rechnerisch mit mehr als 200 Prozent überversorgten Gebieten auch Praxen der Grundversorgung wie Orthopäden und Dermatologen betroffen, und dies sogar auf dem Land, berichtet Metke.

"Fatal" nennt die KV einen möglichen Aufkaufzwang auch im Hinblick auf die Signalwirkung für die kommende Ärztegeneration. "In allen Gesprächen mit Studenten oder jungen Medizinern ist Planungssicherheit eines der wichtigsten Themen", sagt Metke.

Bundesweit, so hat der Rat es errechnet, wären 1739 Arztsitze von einem solchen Szenario betroffen gewesen. Stichtag für diese SVR-Berechnung ist der 30. September 2013.

Darunter wären vor allem Fachinternisten (994) sowie Chirurgen und Anästhesisten (jeweils 174 Sitze). Der Berufsverband Niedergelassener Chirurgen (BNC) nennt Praxisaufkäufe durch die KV "staatlich erzwungene Enteignungen".

Der Verband erinnert daran, dass vor allem Chirurgen und Anästhesisten Anfang der 1990er Jahre von der Politik motiviert worden seien, sich in eigener Praxis niederzulassen. BNC-Präsident Dr. Dieter Haack warnte davor, Praxen, für die nachweislich Sonderbedarf besteht, "nur der Statistik zuliebe vom Markt verschwinden zu lassen".

In den heute nominal überversorgten Regionen hätten KVen und Krankenkassen den Ärzten seinerzeit per Sonderbedarfszulassung Arztsitze zugeteilt, erinnert Haack: "Und zwar, weil die Einzelfallprüfung ergeben hatte, dass in ihrer Region eben doch ein erhöhter Bedarf besteht."

So einfach läuft die Enteignung nicht

Eine Entschädigung für die Kassenpraxis alleine nach dem GKV-Umsatzanteil? Dieses Konzept birgt einige juristische Stolpersteine.

Der Zwangsaufkauf von Kassenarztpraxen ist juristisch gesehen ein ganz heißes Eisen. Nicht umsonst haben sich die KVen bei diesem Thema bislang gewunden, sagt der Bonner Medizinjurist Dr. Ingo Pflugmacher. "Wir haben hier eine enteignungsgleiche Situation." Und damit handele es sich um eine Frage des Entschädigungsrechts. Dabei macht der Vorstoß des Sachverständigenrates, die Entschädigung allein nach dem GKV-Umsatzanteil zu bemessen, die Sache noch problematischer.

Zwar räumt Pflugmacher ein, dass er durchaus Bedenken hat, ob man hier wirklich in Vermögenswerte eingreife. Denn eigentlich bestehe ja der Grundsatz, dass eine Überversorgung durchaus durch das Auflösen bzw. Nichtnachbesetzen von Kassensitzen gelöst wird. Dieser Grundsatz würde aber im Moment noch durch die Nachfolgeregelung durchbrochen.

"Es stellt sich aber auch die Frage: Macht man mit dem Zwangsaufkauf der GKV-Praxis auch die private Praxis tot?" In der Nachfolgeregelung habe man gerade dies ja bedacht - und setzt andere Bewertungsmaßstäbe für die Praxiswertermittlung an.

Der Jurist hat hier große Bedenken, ob die Zwangsenteignung mit einer Entschädigung nur für die Kassenpraxis ohne Weiteres möglich ist, "weil man hier praktisch einen Teil der Praxis mit stilllegt, der mit der Bedarfsplanung nichts zu tun hat".

Die Frage nach dem Umfang der Entschädigung beinhaltet aber noch mehr Stolpersteine: Die Ärzte haben nach der Stilllegung der Kassenpraxis laut Pflugmacher Folgekosten zu tragen, die direkt mit der Kassenpraxis zusammenhängen. "Vielleicht brauche ich von den sieben MFA für die reine Privatpraxis nur noch zwei." Also muss der Arzt fünf von ihnen kündigen.

"Dabei gibt es Kündigungsfristen einzuhalten." Bei einer MFA, die 25 Jahre in der Praxis tätig war, sind das sieben Monate, in denen ihr Gehalt weiterbezahlt werden muss. Oder der Mietvertrag, der noch weitere zehn Jahre läuft. "Solche Folgekosten sind meiner Meinung nach auch zu entschädigen", sagt Pflugmacher.

Noch heikler wird es, wenn ein Arztsitz aus einer Gemeinschaftspraxis zwangsstillgelegt wird. "Hier bleiben dann die übrigen Praxispartner - gerade in Facharztpraxen - alleine auf den Gerätekosten sitzen." Ähnlich sieht es mit den Personalkosten aus. Hier müssen also Ärzte die Folgekosten tragen, die die Zwangsstilllegung gar nicht treffen sollte. Der Jurist erwartet, dass letztlich der Bundesgerichtshof viele Fragen klären muss. (reh)

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