Studie vorgelegt
VdK: Nächstenpflege steht auf dem politischen Abstellgleis
Vier Millionen Pflegebedürftige in Deutschland werden von Angehörigen betreut. Viele fühlen sich im Stich gelassen. Aktuelle Reformpläne der Politik änderten wenig, moniert der Sozialverband VdK. Die Ampelkoalition müsse noch etwas drauflegen.
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Häusliche Pflege: Das Gros der pflegenden Angehörigen übernimmt die Aufgabe freiwillig – nicht selten aber auf Kosten der eigenen Gesundheit.
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Berlin. Dass An- und Zugehörige, vor allem Frauen, Deutschlands größten 24/7-Pflegedienst stellen, ist seit Langem bekannt. Studien zur informellen Pflege oder „Nächstenpflege“ liegen bislang aber kaum vor. Der Alltag bei häuslicher Pflege, die Wünsche und Sorgen der in den eigenen vier Wänden pflegenden und zu pflegenden Menschen liegt somit größtenteils im Verborgenen.
Eine Studie der Hochschule Osnabrück will nun Licht ins Dunkel bringen. Knapp 54.000 Personen haben sich an der Befragung beteiligt. 51 Prozent waren pflegende Angehörige, zwölf Prozent Pflegebedürftige und 37 Prozent Menschen ohne jede Pflegeerfahrung. Beauftragt wurde die Untersuchung vom Sozialverband VdK.
Bentele: „Dringender politischer Handlungsbedarf“
Dessen Präsidentin Verena Bentele erklärte bei der Übergabe der Studie an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) beim VdK-Bundesverbandstag am Mittwoch, die Ergebnisse verdeutlichten „dringenden“ politischen Handlungsbedarf.
Die Koalition habe zwar einen Gesetzentwurf für eine weitere Reform der sozialen Pflegeversicherung vorgelegt – nach Lektüre bleibe allerdings der Eindruck bestehen: „Die Politik lässt vier Millionen Pflegebedürftige, die von ihren Familien zu Hause gepflegt werden, im Stich.“
Kritik des Bundesrats
Bundesländer lassen kein gutes Haar am Pflegegesetz
Die Ampelkoalition müsse ihren Entwurf daher nachbessern und insbesondere die häusliche Pflege stärken, so Bentele. Dazu gehören laut VdK ein Ausbau von Angeboten zur Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie mehr Pflegeberatungen, um für Entlastung zu sorgen.
Darüber hinaus fordert der Verband ein „Pflegegehalt“ für pflegende Angehörige und ein gemeinsames Budget für Unterstützungsleistungen. Dieses müsse von Angehörigen und Pflegebedürftigen „unbürokratisch und flexibel“ genutzt werden können.
Ein Entlastungsbudget – ein gemeinsamer Jahresbetrag für die sogenannte Verhinderungs- und Kurzzeitpflege – war im ursprünglichen Entwurf zur Pflegereform noch enthalten. In dem mittlerweile vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurf taucht der Begriff nicht mehr auf.
In der SPD und bei den Grünen waren zuletzt Rufe laut geworden, die informelle Pflege bei den weiteren Parlamentsberatungen zur Reform noch einmal in den Blick zu nehmen.
Pflegende Angehörige bräuchten mehr Entlastung und Flexibilität bei der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen, hatte etwa die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Heike Baehrens, erklärt. In Regierungskreisen wird allerdings bezweifelt, dass es das Entlastungsbudget wieder zurück in den Gesetzentwurf schafft.
Erste Lesung im Bundestag
Pflegereform der Ampelkoalition vor erster Lesung: Mehr Entlastung und Rekordbeiträge
40 Stunden Pflege die Woche – keine Seltenheit
Laut der vom VdK beauftragten Studie der Hochschule Osnabrück haben sich 91 Prozent der Pflegenden freiwillig und bewusst dafür entschieden, zu pflegen. 72 Prozent der Pflegenden sind demnach Frauen.
Fast die Hälfte aller Befragten gibt an, Vater oder Mutter zu betreuen. In jedem fünften Pflegehaushalt pflegt ein Lebens- oder Ehepartner den anderen. Nächstenpflege ist zudem stark ländlich. 42 Prozent der Pflegenden leben in einem Ort, weniger als 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt.
Von kurzer Dauer ist der Pflegejob zu Hause oft nicht: 37 Prozent der befragten Pflegenden betreuen Angehörige schon länger als fünf Jahre, 23 Prozent geben an, mindestens 40 Stunden in der Woche für die Pflege aufzuwenden. Jeder zweite informell Pflegende gibt zudem an, bei der Aufgabe die eigene Gesundheit außer Acht zu lassen.
Bentele kritisierte, dass trotzdem 93 Prozent der befragten Pflegenden bisher keinen Zugang zur Tagespflege gefunden hätten. 62 Prozent nutzten überdies keinen ambulanten Pflegedienst. Entweder fehle es an passenden Angeboten vor Ort oder die Zuzahlungen seien zu hoch.
Aufgrund „enormer“ Bürokratie und fehlender Beratungsangebote werden laut VdK viele Pflegeleistungen zudem nicht abgerufen. Die Pflegeversicherung spare dadurch etwa zwölf Milliarden Euro im Jahr. (hom)