Die Agenda hinter der Reform
Was Spahns Umbaupläne im System auslösen können
Die Grenze zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor soll durchlässiger werden. Dafür steht Gesundheitsminister Jens Spahns Projekt einer sektorenübergreifenden Notfallversorgung. Pate stand der Sachverständigenrat.
Veröffentlicht:Spahns Pläne, die Notfallversorgung zu reformieren, weisen weit über die Einrichtung von Gemeinsamen Notfallleitstellen und Integrierten Notfallzentren (INZ) an den Krankenhäusern hinaus.
Bei dem Projekt geht es um mehr. Es ist ein gewagtes Experiment. Gelingt es, steht am Ende eine stark veränderte Krankenhauslandschaft. Zudem könnte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sich auf die Fahne schreiben, als erster Gesundheitsminister weiter auf dem steinigen Weg über die Sektorengrenzen vorangeschritten zu sein als jede Kollegin oder jeder Kollege im Amt vor ihm.
Mit einer reformierten Notfallversorgung hätte er zudem eine Blaupause für weitere Schritte in eine sektorenübergreifende Zukunft geschaffen. Die Redner auf gesundheitspolitischen Veranstaltungen müssten ihre Manuskripte umschreiben: Sätze wie: „Wir reden seit mehr als 30 Jahren über sektorenübergreifende Versorgung, gesehen habe ich sie noch nicht!“ müssten dann aus den Folien gestrichen werden.
Ansätze für die Überwindung der scharfen Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung sowie der doppelten Facharztschiene hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, zum Beispiel über Versorgungsverträge oder mit der Ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV). Berauschende Erfolge konnten damit nicht gefeiert werden.
Spahn setzt auf die Gesundheitsweisen
Nun soll mit den INZ endlich ein Durchbruch gelingen. Auch die haben einen gewissen Vorlauf. Jens Spahn setzt damit nahezu eins zu eins auf ein Konzept des Sachverständigenrats für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2018.
In den Zentren sollen der vertragsärztliche Bereitschaftsdienst und die Notfallambulanzen der Krankenhäuser aufgehen. Die Zentren sollen räumlich abgegrenzt und wirtschaftlich unabhängig in Krankenhäusern entstehen. Die Notfallversorgung folgt damit endgültig den Patienten, die in den vergangenen Jahren zunehmend eher die Notfallambulanzen aufgesucht haben als die Bereitschaftsdienstpraxen der Vertragsärzte.
Mit mehr als 600 so genannten Portalpraxen an und in Krankenhäusern haben die niedergelassenen Ärzte den Bereitschaftsdienst ohnehin schon zu einem guten Teil in und an die Krankenhäuser verlegt.
Modul einer übergeordneten Agenda
Der vorläufige Entwurf des Notfallreformgesetzes ist nur ein Modul einer übergeordneten Agenda, die seit geraumer Zeit abgearbeitet wird. Sie zielt auf Kostendämpfung im Gesundheitswesen durch eine bessere Zuordnung der Patienten in die jeweils geeignete Versorgungsebene.
Sie ist somit auch ein groß angelegtes Qualitätssicherungsprogramm.Für alle Beteiligten ist es besser, wenn ein Patient mit Herzinfarkt direkt in eine darauf eingerichtete Klinik gefahren wird anstatt zunächst in eine nicht darauf vorbereitete Einrichtung, von wo er dann wieder verlegt werden muss.
Noch aus der vorhergehenden Legislaturperiode stammte der Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss, das Konzept einer gestuften Notfallversorgung zu entwickeln. Den Beschluss dazu fasste das oberste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen im April 2018.
Demnach sollen 628 Krankenhäuser keine Zuschläge für die Notfallversorgung mehr erhalten. Schlicht deshalb, weil sie dafür nicht ausreichend ausgestattet seien. Damit entfallen für diese Krankenhäuser Optionen, über die Notfallambulanzen Betten auszulasten.
INZ nicht an allen Standorten
Der Konzentrationsprozess in der Kliniklandschaft ist somit bereits angestoßen. Und vieles spricht dafür, dass er sich fortsetzt. Nicht an allen verbleibenden rund 800 Standorten werden zwangsläufig auch INZ eingerichtet, sind Fachkreise überzeugt. Ob die Länder allen Krankenhäusern, die für die Notfallversorgung prädestiniert wären, ein INZ spendieren, darf bezweifelt werden.
Nicht aber, dass sich die knappen Investitionsmittel der Länder künftig dort konzentrieren werden, wo auch INZ sind. Ein Vorteil: Zumindest in großen Städten könnte sich auf diesem Weg der Mangel an Pflegepersonal entspannen, Personaluntergrenzen könnten leichter eingehalten werden.
In manchen Regionen werden Planungsbehörden aber nicht nach rein ökonomischen Gründen entscheiden können. Im Schwarzwald, der Eifel oder der Uckermark müssen kleine Krankenhäuser und INZ auch defizitär betrieben werden können, um die Wege zur Versorgung für die Bevölkerung nicht zu überdehnen.
Ein Topf für alle Fachärzte
Damit nicht genug. In der laufenden Legislaturperiode haben die Koalitionsparteien Union und SPD eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Sektorenübergreifende Versorgung“ eingesetzt.
Die soll Antworten auf immer drängendere Fragen finden: Warum sollen gesetzlich und privat Versicherte unterschiedliche Preise für fachärztliche Behandlungen aufbringen, nur weil sie einmal im Krankenhaus, ein anderes Mal in der Praxis eines Vertragsarztes erbracht werden?
2600 fachärztliche Leistungen, die sowohl stationär als auch ambulant erbracht werden können, zählt ein vom Sachverständigenrat zusammengestellter Katalog auf. Daraus soll nun am besten ein eigener Versorgungsbereich gezimmert werden mit einheitlicher Vergütung und sektorenübergreifenden Leitlinien. Ein Gutachten soll die Konsequenzen eines solchen Schritts ausloten.
Man kann sich ausmalen, dass dieser Schritt die Ambulantisierung der Versorgung vorantreiben und in den Krankenhäusern Kapazitäten freisetzen wird, um die Versorgung von tatsächlich stationär behandlungsbedürftigen Menschen zu optimieren.